2. Sonntag nach Weihnachten (05. Januar 2025)

Autorin / Autor:
Prälat Ralf Albrecht, Heilbronn [ralf.albrecht@elk-wue.de]

1. Johannes 5,11–13

IntentionPraktisch noch zu Beginn des neuen Jahrs und kurz vor dem Epiphanias-Fest nähert sich die Predigt Schritt für Schritt der Antwort auf die Frage: „Was ist Leben?“ In einer kurzen Einleitung werden verschiedene Lebensdefinitionen als Medizin, Philosophie und Praxis in aller Kürze aufgegriffen und skizziert. Und dann geht die Predigt in Anlehnung an den 1. Johannesbrief drei Spuren nach: Leben als Christusbeziehung, Leben als ganz eigene Qualität („ewiges“ Leben), Leben als geschenkte Vergewisserung. Die Predigt macht Mut, das Leben als Gottesgeschenk zu begreifen und mit Glaube, Zuversicht und Hoffnung gewisse Schritte hinein ins neue Jahr zu gehen.

Liebe Gemeinde,
vom Leben haben wir es heute Morgen – und um es gleich mit Oscar Wilde zu sagen: vom Leben, nicht allein von der Tatsache, dass wir leben. „Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.“
Es ist keine Frage, dass Leben mehr ist als Herzschlag und Atmung, Puls und Kreislauf. Leben ist … - ja, was ist es denn eigentlich?
„Das Leben ist ein Hospital, in dem jeder sein Bett wechseln möchte“, sagt Charles de Baudelaire, ein französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.
Es müsste also noch was anderes sein, das Leben, als Herzschlag, Atmung und Puls. Gerade jetzt zwischen dem Beginn eines neuen Kalenderjahrs und dem „Erscheinungsfest“ beschäftigt uns das: Was ist Leben? Und was ist das für eine „Erscheinung“? Was ist denn mit Jesus Christus erschienen, der mehrfach von sich sagt: „Ich bin das Leben“ (Johannes 11,25; 14,6)?
Antwort gibt Gottes Wort für den heutigen Sonntag: 1. Johannesbrief 5,11–13:
„Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.“

Die griechische Sprache, in der unser Text ursprünglich verfasst ist, ist eine Kunst für sich. Sie verleiht den Worten Flügel und besondere Möglichkeiten.
So zum Beispiel die Möglichkeit, zwischen Leben und Leben zu unterscheiden.
Das eine ist bíos, die biologische Seite. Das andere ist zōē – damit ist Leben in einer ganz anderen Dimension gemeint: nicht ausgefülltes Leben, sondern erfülltes Leben.
Nicht gelebtes Leben, sondern erlebtes Leben.
Nicht Lebensquantität, sondern Lebensqualität. Von Gott bestimmtes Leben nämlich. Und dieses Leben ist, so sagt Johannes:
Nicht die Ware Leben, sondern wahres Leben,
Nicht langes Leben, sondern ewiges Leben; und
Nicht sicheres Leben, sondern gewiss leben.

Nicht die Ware Leben, sondern wahres LebenWahres Leben ist in Jesus Christus, dem Sohn Gottes. „Wer den Sohn hat, der hat das Leben.“
Wir Menschen gleichen manchmal jenem Angegriffenen, der auf die Forderung „Geld oder Leben“ antwortet: „Nehmen Sie das Leben, das Geld brauche ich noch.“
Menschen haben schon verschiedenste Lebensersatzstoffe für das Leben verkauft. Geld mag nur ein Beispiel dafür sein.
„Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.“ Wer noch meint, das Leben bestehe aus diesem oder jenem – der hat das Leben nicht. Denn Leben haben heißt: es nicht haben, sondern leben. Leben ist ein Sein. Leben besteht „aus Leben”! Leben kann nur aus Leben selber sein, aus der Quelle allen Lebens. Leben kann nur von dem kommen, der das Leben selbst ist. Leben kann nur derjenige empfangen, der sich dem Lebendigen hingibt. Jesus ist das Leben. Wer Jesus hat, der hat das wahre Leben.
Daher schreibt Johannes in seinem Brief: „Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.“
Der Name steht für die Person, den Charakter, das Ganze.
Jesus ist der Name des Sohnes Gottes. Jesus heißt so viel wie: Gott hilft. In den biblischen Schriften wird er auch Immanuel genannt. Das heißt: Gott ist mit uns. Jesus Christus ist sein Name – und heißt so viel wie: Jesus ist der gesandte König, der von Gott ausgewählte Herrscher der Zukunft.
Was für einen Unterschied macht das, ob wir nur existieren oder ob wir leben?
Ich möchte ein eindrückliches Beispiel aus dem Jahr 2010 wählen:
Das Grubenunglück von San José in Chile ereignete sich am Donnerstag, dem 5. August 2010, um 14 Uhr im Kupfer- und Goldbergwerk von San José. Ein Einsturz schloss 33 Bergleute 700 Meter unter Tage ein. In der bereits im 19. Jahrhundert eröffneten Grube war es immer wieder zu Unfällen und Schließungen gekommen. Sicherheitsauflagen waren nur teilweise erfüllt worden. Die Eingeschlossenen wurden nach über zwei Wochen völliger Abgeschiedenheit mit ersten Rettungsbohrungen erreicht. 17 lange Tage kein Kontakt. Sie lebten unter Tage von Thunfisch und Milch.
Erst nach 69 Tagen gelang es, alle eingeschlossenen Bergleute zu befreien. Ein Wunder. Zwei Jahre danach wurde an jener Stelle am Bergwerk ein fünf Meter hohes Kreuz errichtet. Übrigens, im Oktober 2016 hatte der Film „69 Tage Hoffnung“ Filmstart – damals mit einem Empfang bei Papst Franziskus.
Existieren – oder leben: was für ein Unterschied. Wahres Leben schenkt Jesus Christus, der Sohn Gottes: „Ihr, die Ihr glaubt, habt ihn“ – so verspricht es Johannes. Oder, um es mit Tolstoi zu sagen: „Das Leben lieben heißt, Gott lieben.“ Gott zu lieben, die Begegnung mit ihm als mein Lebensglück zu betrachten, das heißt leben.
Wahres Leben.

Nicht langes Leben, sondern ewiges LebenEs geht nicht um ein langes Leben, sondern um ewiges Leben.
Auch das kann ganz präzise auf den Punkt gebracht werden mit einem Beispiel:
Es gibt langes, andauerndes Leben. Sisyphos’ Strafe in der Unterwelt bestand darin, einen Felsblock einen steilen Hang hinaufzurollen. Kurz bevor er das Ende des Hangs erreichte, entglitt ihm der Stein, und er musste wieder von vorne anfangen. Heute nennt man deshalb Aufgaben, die trotz großer Mühen so gut wie nie erledigt sein werden, eine Sisyphosarbeit.
In Homers Odyssee wird diese Arbeit so beschrieben: „Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: Von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“
Ist das nicht das Lebensgefühl vieler Zeitgenossen? Dass das Leben eben andauert –letztlich zwar lang, aber nicht sinnig?
Bekanntlich hat Albert Camus in seinem Buch „Der Mythos des Sisyphos“ folgende Lösung vorgeschlagen: Wenn man die Vergeblichkeit seines Tuns akzeptiert und jeden Tag neu den Stein annimmt und wieder und wieder sagt „Ohne Gott rolle ich den Stein fröhlich den Hang hoch, ich liebe jede seiner Kanten und kenne sie alle“ – dann ist das das Leben. Aber befriedigt dies wirklich auf Dauer: eine Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit annehmen?
Wie anders, himmelweit anders, bekennt der frühchristliche Briefschreiber:
„Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn.“
Wir Menschen sind nicht auf langes Leben angelegt, sondern auf ewiges Leben. Jesus Christus hat von Anfang an alles dafür getan, dass wir nicht nur für dieses Leben und seine Dauer ein paar Ratschläge haben. Jesus verkündet keine Lebensmoral, sondern schenkt neues, ewiges Leben: Leben aus einer Quelle, die buchstäblich ewig sprudeln wird. Damit bringen wir nicht einfach mehr Jahre in unser Leben, sondern mehr Leben in unsere Jahre.
Deshalb laufen auch alle vier Evangelien miteinander (nach einer sehr langen Einleitung) auf die Passion hinaus. Auf den Moment hinaus, in dem er für unsere Lebensschuld und gegen unseren ewigen Tod sein Leben hingibt und am Kreuz verliert. Und so neues Leben entsteht. Am Ostermorgen.
Jesus stirbt am Kreuz, damit wir ewig leben. Sein Tod sühnt unsere lebenslang angesammelte Schuld. Der lebendige Gott ist das Leben. Daher wird Jesus am Ostermorgen von Gott auferweckt und lebt, damit wir nie mehr letztlich dem Tod preisgegeben werden. Das ist ewiges Leben. Es ist ein Leben über den Tod hinaus, und es beginnt schon heute. Es ist ein Leben in unauflöslicher Gemeinschaft mit Gott, der die Quelle allen Lebens ist. Ein ewiges Leben ist anders und mehr als ein langes Leben; es ist vollkommen anders und vollkommen mehr.

Nicht sicheres Leben, sondern gewiss lebenEs geht nicht um die Illusion, dass Menschen stets sicher leben, sondern darum, dass sie stets zuversichtlich und gewiss leben. Zuversicht und Gewissheit werden am Beginn und am Ende unseres Predigtabschnitts gestärkt:
„Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat“, so beginnt der Abschnitt, und er endet mit: „Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.“ Von Gewissheit zu Gewissheit. Die Gewissheit hängt zum einen am persönlich Erlebten, am Zeugnis:
„Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat.“
Ein Zeuge bezeugt, worüber er sich absolut sicher ist. Er gibt nicht einen neutralen historischen Befund weiter, sondern ist überzeugt und voller Leidenschaft. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, so lautet ein Sprichwort. Ein Zeuge ist gepackt – und er gibt eine packende Glaubenserzählung weiter. Das packt uns. Das überzeugt uns. Diese Gewissheit brauchen wir, und unsere Gemeinden brauchen sie. Sie brauchen die Echtheit und Klarheit und Wärme des Zeugnisses – nicht als Asche der Tradition, sondern als brennendes Feuer. Dadurch bekommen wir Gewissheit im Glauben.
Die Gewissheit hängt aber auch an der verlässlichen Weitergabe:
„Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.“
Das Zeugnis ist verschriftlicht im Buch der Bücher. Es ist eine Weitergabe aus erster Hand.
Für „geschrieben“ steht im Griechischen gráphein, ein bildhaftes, eindrückliches Wort: gráphein, will heißen: „eingraben, einritzen, einmeißeln“.
So prägend ist dieses Wort. Es gräbt sich ein und trägt unseren Glauben. Es schenkt uns Leben. Es spricht ein ewiges Leben lang. Wir brauchen nur zu lesen. Nehmen wir die Bibel in die Hand, dieses Lebensbuch: dieses Buch der Lebenserfahrungen mit Gott. Kein anderes Buch kann da mit.

Ein Leben aus der QuelleWie anders ist dieses Leben – wahr, ewig, gewiss. So anders. So anders, wie zum Beispiel das Leben einer Raupe werden kann.
Wenn man eine Raupe auf die Hand nimmt, klettert sie immer an den höchsten Punkt und streckt sich, so weit sie kann, in die Höhe. Man hat das Gefühl, als wollte sie jeden Moment davon fliegen. Doch sie kann nicht. So frisst die Raupe ihr ganzes Leben lang, wie wenn sie am Verhungern wäre. Und dann geschieht es. Plötzlich puppt sie sich ein und entschlüpft als wunderschöner Schmetterling. Nun ist alles anders. Der Flug beginnt. Das neue Leben beginnt. Amen.


Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)