Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2024)
Jesaja 9,1–6
Intention An Weihnachten treibt viele Menschen die Sehnsucht nach einer heilen Welt um. Dabei ist die alles andere als Realität, weltpolitisch nicht, aber auch oft in den Familien nicht. Das Familienfest ist mit großen Erwartungen belegt, die in der Gefahr stehen, enttäuscht zu werden. Die Predigt will mit der weihnachtlichen Hoffnungsbotschaft Mut machen, am Weihnachtsfest nicht krampfhaft an Erwartungen festzuhalten, sondern einen offenen Umgang mit den Brüchen im Leben zu finden und der Sehnsucht nach Frieden Raum zu geben.
Weihnachtliches Hintergrundrauschen„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ – heute ist dieser Satz weihnachtlich-schönes Hintergrundrauschen. Wenn alle in der guten Stube sitzen. Um den festlich gedeckten Tisch. Weihnachtlich-schönes Hintergrundrauschen, gemischt mit lieblichen Klängen über den holden Knaben im lockigen Haar oder der feierlichen Pauke des „Jauchzet, frohlocket“. Gemischt mit dem Geklapper aus der Küche, aufgeregten Kinderstimmen, dem leicht gereizten Gezanke am Esstisch, dem weinseligen Gelächter von Tante Erna. Bratengeruch in der Luft. Der funkelnde Weihnachtsbaum, schwibbogen-erleuchtete Fenster in der dunklen Nacht. Ein heimeliger Raum, in dem für einen kurzen Augenblick die Realität ausgesperrt werden soll: die Dunkelheit da draußen und vielleicht auch die in mir drin.
Ich lese aus Jesaja 9,1-6:
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth."
Dröhnende Stiefel in der Stillen Nacht„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ – ins weihnachtlich-schöne Hintergrundrauschen kracht heute Abend der dumpfe Lärm dröhnender Soldatenstiefel. Im Gleichschritt blinder Zerstörungswut lassen sie die Erde beben. An den Füßen von Söldnern, die bei Jesaja im Dienste von Großmächten einen kleinen Flecken Land überrennen. An den Füßen von Römern, die bei Lukas durch die Region Palästina marschieren. An den Füßen von russischen Soldaten, die der Ukraine das dritte Weihnachten im Krieg bescheren. An den Füßen von Despoten, die donnernd und drohend unsere demokratische Gesellschaft in Frage stellen. An den Füßen von Rechtsradikalen, die mit vor Hass geifernden Parolen durch die Straßen marschieren. Und eigentlich hat das heute wenig mit meiner Realität zu tun, die dröhnenden Stiefel und blutgetränkten Mäntel, die Jesaja da in meinen Heiligabend bringt. Lebe ich doch nicht im Lärm von Raketen und der Angst um den nächsten Tag.
Weihnachtliches Dröhnen?„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ – ins weihnachtlich-schöne Hintergrundrauschen trampeln aber vielleicht auch bei mir heute Abend dröhnende Stiefel. Vielleicht dröhnt die Einsamkeit in den Ohren oder die stille Trauer um einen Menschen, ohne den ich mir das Weihnachtsfest nie vorstellen konnte. Vielleicht dröhnen die schmerzhaften Fragen, die wir den Rest des Jahres auszusperren versuchen: Halten wir als Familie zusammen? Stehen wir als Geschwister zusammen, oder sind wir zerstritten? Haben wir überhaupt noch eine Familie? Wen vermissen wir? An Weihnachten wird das heilige Ideal der Familie gefeiert, auch wenn vieles alles andere als heil ist, weil Beziehungen gescheitert sind, Familien zerbrochen, die verschiedensten Lebenswelten aufeinanderprallen. Lebensbrüche werden sichtbar, Wunden gehen wieder auf und vielleicht fragen sich manche auch: Wie halte ich das Fest nur aus? An Weihnachten ist da diese Sehnsucht nach einer inneren Lichtinsel, abseits von der Dunkelheit und Kälte da draußen.
Vom weihnachtlich-schönen Hintergrundrauschen in die kalte Nacht„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ – ins weihnachtlich-schöne Hintergrundrauschen krachen heute mit lautem Getöse dröhnende Stiefel. Wie um mich zurück auf den Boden der Realität zu holen. Um dann doch wieder zu verstummen. Stille. Die noch offen lässt, mit was sie gefüllt wird. Die Raum lässt für neue Klänge. Jesaja füllt sie mit dem knackenden Geräusch eines brechenden Stabs, dem Knistern eines wärmenden Feuers; Lukas mit den jubilierenden Engelschören. Beide reißen mich ziemlich unsanft aus meinem weihnachtlich-schönen Rauschen. Sie katapultieren mich in die kalte Nacht, weil die großen und kleinen Dunkelheiten dieser Welt sich nicht einfach aussperren lassen. Jesaja und Lukas sehnen sich nach einer Freude, die nicht flackert wie eine verlöschende Flamme am Weihnachtsbaum, sondern anhaltend und echt ist. Beide treibt die tiefe Sehnsucht nach Frieden an. Es ist die Sehnsucht eines unterdrückten Volks, die Sehnsucht von Menschen, die nicht gehört werden im Getöse der Mächtigen und Reichen.
Schrei eines Neugeborenen„Siehe, ich verkündige euch große Freude – denn euch ist heute der Heiland geboren. Oder: Denn uns ist heute ein Sohn geboren.“ Ins Dröhnen der Stiefel mischt sich heute Abend der Schrei eines Neugeborenen. Das noch nichts ahnt von der kaputten Welt, in die es da geboren wird. Da werden große Hoffnungen auf ein Kind gesetzt. Aber bringen nicht gerade diese großen Männer, die großen Führer immer wieder die dröhnenden Stiefel in die Welt? Ist es doch das letzte, was wir gebrauchen können, noch so einen Alleinherrscher oder Autokraten, der meint, das Geschick der Welt läge in seiner Hand? Auch wenn die Sehnsucht nach einfachen Antworten allzu verständlich ist? Auf einen König wird da bei Jesaja alle Hoffnung gesetzt – die, wie sich herausstellen wird, bitter enttäuscht wird. Ist es also nicht besser, skeptisch zu bleiben, solche Heilsversprechen zu hinterfragen?
Namensfindung für die Hoffnung„Siehe, ich verkündige euch große Freude.“ Ist das heute wirklich zu hören, am Weihnachtsfest 2024? Hat sich doch nicht nur Jesajas Friedensvision, sondern auch der Friede auf Erden, den die Engel zu Jesu Geburt versprechen, noch nicht erfüllt. Es gibt sie immer noch, die dröhnenden Stiefel, die heute bis ins weihnachtlich-schöne Hintergrundrauschen getragen werden. Wir leben immer noch in der weihnachtlichen Erwartung nach einer heilen Welt. Worauf setzen wir unsere Hoffnung? Es wird Zeit, dem Kind einen Namen zu geben: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Denn es ist kein machtgieriger Despot, es ist Gott selbst, auf den Jesaja seine Hoffnung setzt. Ein Gott, der in die menschliche Dunkelheit kommt. Das ist das Geheimnis von Weihnachten, das ich nie ganz begreifen kann: dass unsere Sehnsucht nach Frieden sich erfüllt im kleinen Kind. Und dass Weihnachten trotzdem oder gerade deswegen nicht nur ein schönes Hintergrundrauschen ist. Gottes Licht scheint hell gerade da, wo keine heilen oder gar heiligen Familien um den Weihnachtsbaum sitzen. Wir feiern schließlich das uneheliche Kind einer jugendlichen Mutter, die es weit weg von zu Hause in einer dunklen Ecke zur Welt bringt.
Tanz ums Freudenfeuer„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ – mitten im weihnachtlich-schönen Hintergrundrauschen will ich heute wie die Heilige Familie nicht krampfhaft versuchen, die Dunkelheit auszusperren. Ich werde versuchen, mich nicht an den Brüchen in meinem Leben abzuarbeiten; die anderen stehen und leben zu lassen, wie sie eben sind. Ich will heute rausgehen in meine Dunkelheit und mit Jesaja und den Hirten in der kalten Nacht ein Feuer entzünden. Ein helles Licht, das weithin zu sehen ist, das die Hände und Wangen hoffnungsfroh wärmt. Ich tanze heute um Gottes Freudenfeuer, mit einer unerfüllten Sehnsucht im Herzen. Und trotzdem mit lautem Jubel und großer Freude. Weil Gott die dröhnenden Stiefel verbrennt. Ich tanze mit den Traurigen, Verzweifelten und Einsamen, mit den aufgeregten Kindern, Tante Erna, der Schwiegermutter. Ins Feuer schmeißen will ich meine überzogenen Erwartungen an mich und die anderen. Wir feiern heute unsere Sehnsucht nach Frieden. Die dröhnenden Stiefel verstummen, zumindest für einen Augenblick. Und dann mitten in der stillen Nacht wird ein Versprechen laut, dämmert es am Horizont: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ Amen.
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