Jahreslosung (01. Januar 2025)
1. Thessalonicher 5, 21
Schon mal eine Entscheidung zu lange aufgeschoben, weil man vor lauter Optionen und Informationen absolut überfordert oder unsicher war? Mir geht es häufiger so. Umso länger ich über eine Entscheidung nachdenke, umso mehr ich „prüfe“, umso unentschlossener werde ich. Plötzlich fühle ich mich gelähmt: Habe ich überhaupt schon alles bedacht? Kann ich jetzt schon eine Entscheidung treffen? Was fand ich nochmal „gut“, was will ich „behalten“?
Wer prüft hier wen und was?„Prüft alles, und das Gute behaltet!“ Was ist das für ein Prüfauftrag, der da gegeben wird? Paulus richtet diesen Satz an die Gemeinde in Thessaloniki. Das fünfte Kapitel in dem Brief ist voll von Bitten und Ermahnungen. Eine Auflistung an Ratschlägen für die Gemeinde und ihr Zusammenleben: Seid friedlich, geduldig, jagt dem Guten nach, seid fröhlich, betet, seid dankbar (5, 12-19) und dann: „Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.“ Nimmt man den Satz davor und danach mit in den Blick, wird dieser Prüfauftrag, den Paulus da an die Gemeinde richtet, gleich sehr viel konkreter.
Prophetische Rede ist unbequemDa ist zunächst die „prophetische Rede“. Das sind meist Aussagen, die alles radikal infrage stellen. Als anstrengend empfundene Gedanken, die an dem Gedankengebäude rütteln, in dem man es sich gerade halbwegs eingerichtet hat. Lästige Fragen, die den Finger in die Wunde legen, die provozieren und uns aus unserer Routine herausreißen, und Antworten, die uns herausfordern. Prophetische Rede ist unbequem.
ProphetInnen, das sind Menschen in der Bibel, die mit ernster Entschiedenheit und großen Worten auftreten und sagen, was Gottes Wille sei, welches Wort er an uns richtet – und was das für uns bedeutet, welche Folgen das hat für unser Leben in der Gemeinde und der Gesellschaft. Wer so auftritt, der trifft auf Widerspruch – gerade auch in der Gemeinde.
Trennung von Person und PositionPaulus rät der Gemeinde aber, die lästigen Störungen, die Provokationen und Unterbrechungen, die prophetische Rede, nicht einfach abzutun, zu disqualifizieren, zu „verachten“, sondern offen dafür zu sein. Erstmal ergebnisoffen, alles zu prüfen, immer mit der Abwägung darüber, was „gut“ sei. Was mir dabei besonders auffällt, Paulus rät uns „alles“ und nicht „alle“ zu prüfen. Er spricht nicht von „den ProphetInnen“, sondern von der „prophetischen Rede“. Das ist eine wichtige Differenzierung – es geht nicht um andere Personen, die wir mehr oder weniger sympathisch finden, sondern um die Sache! Wie häufig habe ich erlebt, dass Argumente einfach über Ad-hominem-Scheinargumente abgewehrt wurden, also Aussagen, die sich auf die Person beziehen und nicht auf den Gegenstand. „Er ist ja kein Theologe, er hat einfach zu wenig Verständnis.“ „Sie ist noch so jung, da fehlt einfach die Erfahrung, damit brauchen wir uns gar nicht erst auseinandersetzen.“ Auch ich ertappe mich manchmal, dass ich nicht offen bin für den Inhalt der Argumente, für die berechtigten Fragen, sondern plötzlich auch ablenke, indem ich über die Person spreche. Wenn wir Person und Position unterscheiden, werden wir offener, für das was gesagt wird.
Was ist schon „gut“ und „böse“?Paulus spricht von „gut“ und „böse“. Er zeigt auf, worauf die Prüfung abzielt. Das Böse meiden, das Gute behalten. Doch was ist „gut“ und geboten? Eine Frage, die häufig Ausgang für die philosophische Auseinandersetzung, für die genaue Analyse eines Sachverhalts ist. Und ist gleichzeitig anschlussfähig für jeden: Sich nach dem „Guten“ sehnen, wer tut das nicht? Wer will schon böse sein?
Doch wie „meiden wir das Böse“? Das „Böse“ lässt sich für mich recht schnell identifizieren, wenn Menschen ihr Menschsein, ihre Würde, ihre Gottesebenbildlichkeit abgesprochen wird. Wenn Menschen nicht mehr ohne Angst verschieden sein dürfen, wenn willkürlich Gewalt verwendet wird. Doch was ist das „Gute“? Woran bemisst es sich? An der guten alten goldenen Regel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“? Oder an Kants kategorischem Imperativ – nur nach der Maxime handeln, die zugleich allgemeines Gesetz werden könnte? An dem, was möglichst vielen den möglichst größten Nutzen bringt? Sind es die guten Werke, bei denen Liebe mit Taten hinterlegt werden? Kriterien für eine solche „Prüfung“ sind zahllos und wohl abhängig von der jeweiligen Perspektive. Jede/r bringt hier seine eigenen Maßstäbe mit, hat „rote Linien“, die nicht überschritten werden dürfen.
Ein Satz für das kommende Jahr„Prüft alles und behaltet das Gute!“ Ich lese in der Jahreslosung aber auch einen Auftrag an uns alle, uns häufiger unbequemen Fragen auszusetzen. Anzuerkennen, dass nicht alles, wie es ist, so sein muss. Anderen und ihren Argumenten ganz offenherzig zu begegnen, unvoreingenommen sich anzuhören, was sie zu sagen haben. Und dabei zu unterscheiden, zwischen Person und Position. Es ist ein Impuls im kommenden Jahr, auf all das zu hören, was in unseren Gemeinden, in unserer Gesellschaft, auch weltweit, von Gott, Liebe, Hoffnung, Gerechtigkeit, ja einem guten Leben vor Gott gesagt wird.
Ich finde es klug und sympathisch, vom anderen lernen zu wollen, eigene Positionen zu hinterfragen und auch mal eine andere Meinung gelten lassen zu können. Nicht nur mit Vernunft abzuwägen, zu „prüfen“, sondern dann auch neue Einsichten zu „behalten“. Hören, prüfen und das Gute behalten.
Ich spüre aber auch, wie mühsam das ist. Und welche Überforderung damit einhergehen kann, denke ich nur an die Vielstimmigkeit der Öffentlichkeit, an die unterschiedlichen Positionen, an Aufregung als Geschäftsmodell, aber auch an die anstrengenden Debatten am familiären Esstisch, wenn mal wieder zwei ganz unterschiedliche Ansichten aufeinandertreffen. Wie anstrengend es ist, sich aus der Entscheidungslähmung zu lösen, weil man mal von zu vielen Informationen und Optionen überwältigt ist. Gerade nicht zu resignieren, weil die Komplexität kein Ende zu nehmen scheint und „gut“ und „böse“ immer mehr verschwimmen.
Als Christin bin ich überzeugt, dass da ein Gott ist, der ein Wort für uns hat, mit dem wir aufbrechen können. Der uns weite Herzen schenkt, um immer wieder unsere engen Grenzen zu überwinden. Der uns kritisch hinschauen lässt, wenn wir es uns mal wieder zu gemütlich gemacht haben. Der ordnet, wenn wir in der Unordnung drohen unterzugehen. Ich vertraue, dass Gott eine Idee für unser Leben hat. Vertrauen in Gott, heißt auf ihn setzen. Das macht mich stark, schafft die richtigen Grundvoraussetzungen, um zu hören, zu prüfen und das Gute zu behalten. Und das Gute, will ich behalten und Gott hinhalten, dass er es segnet. An allen Tagen des kommenden Jahres – und darüber hinaus.
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