Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs (10. November 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Anja Wessel, Stuttgart [Anja.Wessel@ELK-WUE.DE]

Micha 4,1-5 (7b)

IntentionWir brauchen in unserer Zeit unbedingt Bilder und Visionen vom Frieden. Die Worte aus dem Michabuch lassen die irdisch-konkrete und die eschatologische Dimension gleichermaßen zu. So ist diese biblische Vision zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten Realität geworden. Dies soll die Predigt bewusst machen. Sie soll ermutigen, der Sehnsucht nach Frieden Raum zu geben sowie Gegenbilder zu den täglichen Schreckensnachrichten, wachzuhalten und zu verbreiten.

Auf einmal ist alles andersLiebe Gemeinde, als mein Vater 90 Jahre alt wurde, schenkte ich ihm eine exklusive Führung durch das Alte Lager in Münsingen, der ehemaligen Kaserne am Rande des früheren Truppenübungsplatzes.
Von dort musste mein Vater Anfang1943 in den Krieg nach Afrika ziehen. Glücklicherweise war der sogenannte Afrikafeldzug der Deutschen dann schnell beendet.
Bewegend war diese Führung mit meinem alten Vater, der noch genau wusste, wie und wo er untergebracht war. Bilder stiegen in ihm auf. Er erzählte. Unsere Kinder, 8 und 11 Jahre alt, lauschten gebannt.
Es wurde ernst, als alle antreten mussten und die Entscheidung getroffen wurde, ob es nach Russland oder nach Afrika gehen würde. Für meinen Vater wurde es Afrika.
Jahreszahlen und „Fakten“ wurden lebendig. Wie schrecklich war es für ihn, als junger Mann in den Krieg geschickt zu werden. Er hatte Träume vom Leben, nicht vom Tod. Doch es gab keine Wahl. Die Eltern blieben zurück und hofften jeden Tag neu auf ein Lebenszeichen.

Hunger, Durst, Staub, wenig Schlaf, rauer Ton, bitterer Ernst, Härte, Kampf, Verwundete, Schreie, Tränen, Tote, Gewehre, Kanonen, Panzer, Schützengräben. Leid. Unendliches Leid, kaum Schlaf, Angst und Heimweh.

Wenn Krieg ist, wird alles anders. Was zählt schon ein Menschenleben?
Über vieles ist Gras gewachsen, nur nicht über alle Narben. Als Tourist kann man sich alles anschauen. Das Alte Lager und der frühere Truppenübungsplatz sind zum Ort der Erholung und des Genusses geworden. Es gibt Läden, Kaffee, man kann im ehemaligen Casino feiern, ein beliebter Ort für Hochzeitsgesellschaften.
Der Ort des Kampfes, der Kriegsführung ist zu einem Ort des Friedens geworden.
Pflanzen und Tiere haben einen Lebensraum gefunden. Große Schafherden genießen die Wacholderwiesen. Menschen treffen sich. Lachen. Unterhalten sich. Freuen sich am Leben. Beinahe unwirklich. Wer hätte daran im Traum gedacht? Mein Vater bestimmt nicht.
70 Jahre später war er immer noch tief bewegt. Alles schien unwirklich.
Krieg und Frieden: Welch Gegensatz und wie nah beieinander.
Kaum zu fassen, wenn plötzlich alles anders ist.

Alles wird anders: Micha 4, 1-5In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet. Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich! 

Paradiesische Zustände – jenseits des Gartens EdenUnwirkliche Worte, die wie ein Fremdkörper wirken. Fern der Heimat waren die Menschen auch zur Zeit des Babylonischen Exils. Ohne Perspektive. Alles war zerstört. Häuser, Familien, Menschenleben.
Und plötzlich erklingt dieses Lied vom Frieden. Menschen setzen sich in Bewegung. Sie fragen nicht, ob das geht. Ob wirklich alle kommen dürfen. Sie laufen einfach los. Ein bunter Haufen aus allen Himmelsrichtungen ist unterwegs.
Sie suchen Orientierung. Nie wieder Krieg! Nie wieder dieses Leid. Dieses Grauen.
Sie suchen Frieden. Sie wollen keine Waffen mehr. Sie wollen Waffen umschmieden. In nützliche Geräte. In Werkzeuge des Lebens und des Friedens. Schwerter zu Pflugscharen! Spieße zu Sicheln. Arbeiten für das Leben und nicht für den Tod. Was wäre, wenn niemand mehr auf die Idee käme zu kämpfen, die Waffen gegen den Bruder oder die Schwester zu erheben?
Das Paradies auf Erden – in greifbarer Nähe. Weinstock und Feigenbaum, diese alten Kulturpflanzen, haben köstliche Früchte. Sie spenden Schatten in der Hitze. Sie erfreuen durch ihre Schönheit. „Ein jeder [und eine jede] wird unter seinem [bzw. ihrem] Weinstock und Feigenbaum wohnen,“ Genießen und sich am Leben freuen. Freunde, Nachbarinnen einladen. Miteinander reden, lachen, lieben …

„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ So lautet der Titel eines Romans von Joachim Meyerhoff, der auch verfilmt wurde. Er begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit seiner Kindheit.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ Welch treffende Formulierung, um dem auf die Spur zu kommen, was wir zutiefst ersehnen. Sehnsuchtsworte und -bilder haben wir aus dem Michabuch gehört.
Jerusalem, der Berg Zion als Berg des Friedens. Stellen wir uns das vor. Wie anders sähe es aus in der von Gewalt, Leid und Tod gezeichneten Region zwischen Jordan und Mittelmeer. An Frieden ist derzeit nicht zu denken. Stattdessen zerstört eine nicht enden wollende Vergeltungsspirale unfassbar viele Menschenleben. Und es ist ja nicht der einzige Ort des Grauens und des Schreckens. Wie kann es sein, dass wir uns an Bilder und Nachrichten von unzähligen Kriegsopfern gewöhnt haben? Makaber, dass es auch noch Kriegsspiele gibt, mit denen man sich in der Freizeit vergnügen kann. Als ob der Schmerz nicht schon viel zu groß wäre.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ Wie es ursprünglich gedacht war. Wie Menschen es sich erträumen. Egal, wo auf dieser Welt sie leben. Hat nicht Gott den Wunsch nach Frieden, nach Schalom in unser Herz gelegt? Wie traurig, wenn dieser tiefe Wunsch verschüttet und überlagert ist. Jemand keinen Zugang mehr dazu hat. Kinder keine Anschauung vom Frieden haben. Keine Ahnung von einer unbeschwerten Kindheit.

Gottes Möglichkeiten – Hoffnung, von der wir lebenWir brauchen Träume, Visionen, Geschichten und Bilder, die vom Frieden erzählen. Es geht auch anders. Es darf nicht so bleiben, wie es ist. Wenn wir uns abgefunden haben, dann ist zu viel kaputtgegangen.
In einem Buch mit Bildern, die von Kriegskindern aus dem ehemaligen Jugoslawien gezeichnet und gemalt worden sind, gibt es viele Schreckensbilder: Zerstörte Häuser, verwundete Kinder in Krankenhausbetten, ein Gesicht, das fast nur aus Augen voller Tränen besteht. Und dann ist da ein Bild eines 12jährigen Mädchens, das mitten im Krieg lebt. Es malt gegen den Krieg: Bunte Blumen. Eine leuchtende Sonne am tiefblauen Himmel. Mittendrin eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel. Es könnte alles anders sein. Es kann anders werden. Es muss anders werden. Wo nur noch Schutt und Asche zu sehen sind, werden wieder farbenprächtige Blumen wachsen. Bienen und Schmetterlinge fliegen. Der Duft von Veilchen, Rosen und Jasmin wird die Luft erfüllen und die Sinne bezaubern. Statt Rauchschwaden wird wieder das tiefe Blau des Himmels zu sehen sein. Es wird wieder die Sonne aufgehen, Licht und Wärme spenden.

Menschen werden wieder unter Feigenbäumen und Weinreben sitzen, miteinander lachen, essen, trinken, tanzen und singen. Sie überwinden Grenzen. Reichen sich die Hände. Und machen sich auf, um Gott zu suchen. Um Frieden zu lernen.
Manche Vision ist schon wahr geworden.
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“
Wenn wir beten, finden wir uns nicht ab mit dem, was ist.
Wenn wir singen, singen wir, unter Tränen vielleicht, von der alten Welt. Und singen zaghaft, ungläubig lächelnd vielleicht, von der neuen Welt, die noch nicht ist. Die aber kommen wird. So hoffen wir. Darum bitten wir Gott. Darum feiern wir Gottesdienst. Gegen das scheinbar Unabänderliche.
"Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen

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