Erntedank (06. Oktober 2024)

Autorin / Autor:
Professor Dr. Bernhard Mutschler, Reutlingen [Theologie@MutschlerMetzingen.de ]

1. Timotheus 4,4-5

IntentionDas Erntedankfest feiert das Leben in mehrfacher Weise. Es legitimiert eine unbeschwerte Freude am Genuss und fördert ein Bewusstsein der Vernetzung untereinander und mit Gott. Es verweist auf Jesus als sprechendes Wort Gottes und „Mensch für andere“, und es leitet an zum Erkennen des Lebensförderlichen: zu einer annehmenden Haltung der Dankbarkeit. „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.“

PredigttextDenn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Liebe Gemeinde, wie wunderbar ist der Erntedanktag! Sehr vieles aus der Natur wurde geerntet und eingebracht. Früchte von allen Farben und Formen und Geschmacksrichtungen laden zum Sehen und Betasten, zum Schmecken und Genießen ein. Aber darf man wirklich alles genießen, was Gott in der Schöpfung hat wachsen lassen?

Was Gott geschaffen hatDarüber gab es Auseinandersetzungen in frühchristlichen Gemeinden. Im Brief an Timotheus lesen wir als Faustregel: Ja, man darf. Zur Begründung: „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

Gott erschafft Lebensmittel zum GenießenBei den Auseinandersetzungen in frühchristlichen Gemeinden ging es damals im Kern um die Befolgung von Speisegesetzen. „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird.“ Das sollte auch für sozusagen religiös kontaminierte Lebensmittel gelten – etwa aus einer am heidnischen Tempel angegliederten Metzgerei. Auch solche Lebensmittel bitte mit einem Segensvers oder Dankgebet empfangen – und genießen! Niemand braucht sich darüber ein Gewissen zu machen. Gott hat alle Lebensmittel erschaffen zum Genießen. Martin Luther hat dies in Wittenberg so auf sich bezogen: „Darf unser Herr Gott gute große Hechte, auch guten Rheinwein schaffen, so darf ich sie wohl auch essen und trinken.“

Herstellungsprozess von LebensmittelnHeute geht es kaum mehr um Fragen religiöser Verunreinigung von Lebensmitteln, sondern eher um die Frage nach ihrer Herstellung: Wie viel Gift wurde dafür in die Natur ausgebracht, wie viel Wasser in wasserarmen Gegenden verbraucht, wie weit waren die Transportwege bis zu uns, und welchen Lohn erhielten die an der Herstellung der Lebensmittel beteiligten Menschen? Wie hoch ist also die toxikologische, ökologische oder soziale Belastung bestimmter Lebensmittel?

Die Generationen nach mirDer neutestamentliche Briefschreiber stellt keine Erlaubnis aus für eine rücksichtslose Ausbeutung der Natur oder von Menschen. Darf ich rücksichtslos so viel wie möglich für mich selbst nehmen, dabei fremde Gesundheit und Allgemeingut dadurch zugrunde richten und die Schöpfung im Turbotempo verbrauchen? Ich denke: Nein, dazu lädt der heutige Predigttext nicht ein. Denn „Gottes Wort und Gebet“ leiten mich zu einem sorgsamen Umgang mit den Schöpfungsgaben an. Auch die Generationen nach mir wollen Gottes Gaben noch genießen.

Mit vielen vernetztDas Erntedankfest weist uns auf eine Vernetzung untereinander und mit Gott hin. Auch wenn wir unsere Lebensmittel heute größtenteils nicht mehr höchstpersönlich herstellen, sind wir doch alle zusammen an der gemeinsamen „Herstellung“ und Gestaltung des Lebens beteiligt. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft greift dies sehr ineinander. Der Schriftsteller Armin Juhre schrieb 1979:

1) Ich hab die Faser nicht gesponnen,
die Stoffe nicht gewebt,
die ich am Leibe trage.
Ich habe nicht die Schuhe,
die Schritte nur gemacht.
2) Ich habe nicht gelernt zu schlachten,
zu pflügen und zu säen
und bin doch nicht verhungert.
Ich kann nicht Trauben keltern
und trinke doch den Wein. (…)
(Refr.) Wer mich ansieht, sieht viele andere nicht,
die mich ernährt, gelehrt, gekleidet haben,
die mich geliebt, gepflegt, gefördert haben.
Mit jedem Schritt gehn viele Schritte mit.
Mit jedem Dank gehn viel Gedanken mit.

Viele Schritte und viele Gedanken gehen mit – mit jedem Schritt und mit jedem Dank. Eine verbreitete Haltung wie „Wofür soll ich dankbar sein? Was ich esse, kaufe ich ja mit meinem Geld. Niemand schenkt mir da etwas“ ist deshalb zu kurz gedacht.

Dankbarkeit als HaltungDas Erntedankfest schenkt Dankbarkeit. Dankbarkeit als Haltung weckt Kräfte und setzt Kräfte in mir frei. Wer sich beschenkt weiß, kann dankbar anderen etwas davon weitergeben. Denn es heißt: Das Empfangene „wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet“. Bei „Gebet“ denke ich an ein kurzes Tischgebet vor dem Essen – noch hungrig – oder an einen längeren Dank nach dem Essen: „Wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, deinen Gott, loben.“

Jesus von Nazareth ist Wort Gottes und Mensch für andere„Wort Gottes und Gebet“: Bei „Wort Gottes“ denke ich auch an Jesus von Nazareth, das menschgewordene Wort Gottes. Jesus von Nazareth war Mensch – und zugleich „Sohn Gottes“. Jesus lebte sein Leben als ein sprechendes Zeugnis von Gott, als „Wort Gottes“. In seinem ganzen Leben stand er in Verbindung zu Menschen und zu Gott. Beides brachte er in einen unlösbaren Zusammenhang. Jesus wusste sein Leben von A bis Z, vom Anfang bis zum Ende, in der Liebe Gottes geborgen. Zugleich lebte er als „Mensch für andere“ (Dietrich Bonhoeffer).

Leben in der Spur JesuEin Leben in der Spur Jesu regt dazu an, in Verbindung mit Gott und mit Menschen zu leben. Jesus lebt im Gelingen und im Scheitern, im aktiven Gestalten des Lebens und in Passion und Leiden, aus einem tiefen Gottvertrauen heraus. Dieses gibt ihm Kraft, Mut und Orientierung, um sein Leben für sich – und immer zugleich für andere – zu leben.

Kraft zur UnterscheidungWo wir uns an Jesus orientieren, wächst uns Kraft zur Unterscheidung zu. Wir lernen eine Kunst der Unterscheidung. Denn es ist ja zu unterscheiden zwischen den Schöpfungsgaben, die Gott uns schenkt, und anderem, was nicht von Gott kommt, sondern (darf man es so deutlich sagen?) aus menschlichem Hochmut, menschlicher Trägheit und menschlicher Lüge.

Heiligung: „verbunden mit Gott“Unser neutestamentlicher Briefschreiber nennt diese Kunst die „Heiligung“: „Was mit Danksagung empfangen wird“, „wird durch das Wort Gottes und Gebet geheiligt“. Heiligung macht den Unterschied. Heiligung bedeutet nämlich: „ist verbunden mit Gott“. „Nicht heilig“ bedeutet umgekehrt: „ist nicht verbunden mit Gott“, „lässt sich nicht auf Gott zurückführen“.

Heiligung lehrt unterscheidenDiese wunderbare Kunst hilft uns, zunehmend besser unterscheiden zu lernen, was uns und unserem Leben auf Dauer gut tut: Ob wir etwas wirklich brauchen – oder ob wir es nur meinen zu brauchen. Ob uns etwas an Leib und Seele gut tut – oder ob es nur ein vorübergehender Spaß ist auf Kosten anderer. Ob uns etwas dauerhaft und innerlich reich macht – oder ob es einfach nur eine kurzfristige Vergrößerung von Macht und Einfluss darstellt. Deshalb möchte ich mein Leben lang in Jesu Schule der Heiligung gehen, um unterscheiden zu lernen, was ich wirklich brauche und was nicht.

Schweres annehmen lernenSo kann ich vielleicht dann auch all das Schwere, das mich im Leben trifft, so lange drehen und wenden, bis ich innerlich Ja sagen kann und es schließlich annehme – aus Gottes Hand. Denn auch das Schwere wird nach und nach geheiligt „durch das Wort Gottes und Gebet“. „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

Training der DankbarkeitZum Schluss eine Übung: Wie trainiere ich ein Leben in Dankbarkeit? Dazu braucht man zwei Hosentaschen und etwas Bewegliches wie Bohnenkerne, Murmeln, Knöpfe oder kleine Steine. Morgens beim Aufstehen stecke ich mir eine Handvoll in die Hosentasche auf der einen Seite. Sobald ich tagsüber einen Grund zur Dankbarkeit sehe, hole ich eine Bohne oder einen Knopf heraus und stecke es in die Hosentasche auf der anderen Seite. Abends zähle ich nach, wie viele Gründe zur Dankbarkeit ich heute hatte. Und wer weiß, vielleicht fallen mir beim Rückblick auf den Tag noch einige weitere Gründe ein, so dass die Bohnen, Murmeln, Knöpfe oder die kleinen Steine gar nicht ausreichen.

Eine dankbare Haltung entwickelnDankbarkeit ist eine Sache der Übung. Heute am Erntedanktag üben wir das hier in der Kirche im großen Stil: mit Kindern und Erntekörbchen, mit Orgelklang und Gesang, mit Predigt und Gebet. Morgen geht das Leben weiter. Aber ich möchte auch morgen meine Augen, Sinne und Gedanken für das öffnen, wofür ich meinem himmlischen Vater von Herzen dankbar bin. All das wird geheiligt „durch das Wort Gottes und Gebet“. Auf diese Weise lerne ich die wunderbare Kunst der Unterscheidung. Ich lerne, was kostbar ist in meinem Leben. Dafür danke ich Gott jeden Tag. Ich hoffe, Sie können das auch und sagen wie ich: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.“ Amen.

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