13. Sonntag nach Trinitatis (25. August 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Anna Förg, Stuttgart-Zuffenhausen [Anna.Foerg@elkw.de]

3. Mose 19,1–3.13–18.33–34

IntentionDie Spaltung der Gesellschaft beschäftigt mich sein einiger Zeit zunehmend, und vielen Menschen, denen ich im Berufsalltag und auch privat begegne, teilen meine Sorgen. Es geht ein spürbarer Bruch durch unser Gemeinwesen – politische Entfremdung macht sich breit. Vor diesem Hintergrund wird die Forderung zur Heiligung zum Balanceakt, denn auch für den politisch Fremden gilt: „Er ist wie du.“ Die schärfer werdenden politischen Debatten drohen, so scheint es mir, die Menschlichkeit der ausgerufenen Feinde zu vergessen. Die Heiligung, die Gott uns zuspricht, stellt uns als Christinnen und Christen vor eine große Herausforderung: Die Gefährdung der Demokratie fordert von uns, dass wir Grenzen ziehen. Zugleich sind wir aufgefordert, Gräben zu überwinden. Es scheint mir lohnend, diesen Balanceakt auszuloten – ohne der Versuchung zu erliegen, vorschnelle Lösungen für dieses Dilemma aufzuzeigen.

Hinführung: Darstellung der RisseEs ist Abend geworden. Ein anstrengender Arbeitstag liegt hinter mir. Also mache ich es mir auf dem Sofa bequem und schalte den Fernseher ein. Ich zappe in eine Doku über Island. Die atemberaubende Landschaft zieht mich in ihren Bann. Islandpferde galoppieren über sattgrüne Wiesen, ein Geysir schleudert Wasser in den wolkigen Himmel und dann wird es spektakulär: Plötzlich stürzt sich die Kamera in die Tiefe. Links und rechts fliegen die schroffen Felswände vorüber. Es ist atemberaubend. Auf meinem Sofa sitzend sause ich zwischen zwei Kontinenten hindurch und erfahre: Das Naturschauspiel setzt sich unter der Wasseroberfläche fort. Ein Riss, der zwei geologische Welten voneinander trennt, zerfurcht diese Insel.
Dieses Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf, denn es scheint mir: Mit unserer Gesellschaft verhält es sich ähnlich. Wie zwei geologische Welten, wie Steine, die nicht miteinander reden, so stehen sich Gruppen gegenüber. Zum Beispiel Demokratiegegner und Demokratiebefürworter, Vertreter von Gleichberechtigung und von Respekt vor jedem Menschen und andere, die Menschen in Wertkategorien einteilen und Abstufungen machen. Ich mache mir manchmal Sorgen um den gesellschaftlichen Frieden und um eine gemeinsame Zukunft in unserem Land. Teilen wir als Gesellschaft noch dieselben Werte und Haltungen im Blick auf den unendlichen Wert jedes einzelnen Menschen? Darin sehe ich die Grundlage für ein lebenswertes und wertschätzendes Miteinander.

Ausführung: Gesellschaftliche RisseLiebe Gemeinde, diese Sorgen trage ich in der Brust, und ich bin damit nicht alleine. Ich begegne vielen Menschen, die nachdenklich auf unsere Gesellschaft blicken und mit Bauchschmerzen die Entwicklungen der Weltpolitik beobachten. Demokratie war für mich immer etwas Selbstverständliches. Ich wurde in eine Welt hineingeboren, in der selbst die deutsch-deutsche Teilung Geschichte war! Demokratie und Freiheit waren bis vor einiger Zeit unhinterfragte Gegebenheiten für mich. Diese Überzeugung bekommt Risse.
Risse ziehen sich auch durch unsere Gesellschaft. Der Ton der politischen Debatten wird schärfer. Ideologien stehen sich feindselig gegenüber. Schroff zerfurchen Spalten unser Land – schroff wie die Natur in Island. Unaufhaltsam driften die Kanten auseinander, der trennende Abgrund wird tiefer. Anstelle der isländischen Idylle blicke ich auf ein Deutschland im Umbruch.

PredigttextUnd zugleich wird mir bewusst, auch ich bin Teil dieses Landes. Ich bin ein kleines Teilchen dieser Gesellschaft, verorte mich auf einer Seite des Abgrundes und blicke nachdenklich in die Tiefe. Als Christin spüre ich eine Verantwortung in mir, dass ich angesichts dieses Abgrundes wenigstens nicht in Angststarre verfalle.

Ich lese den Predigttext für den heutigen Sonntag. Er steht im dritten Buch Mose im 19. Kapitel:
„Und der HERR redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott. Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der HERR, euer Gott.
Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR. Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.
Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“

Gesellschaftliche Einheit der IsraelitenWenn Mose in diesem Text seine Stimme erhebt, dann hat er ein geeintes Volk als Gegenüber. Die Fluchterfahrung hat die Israeliten zusammengeschweißt. Sie haben gelernt, dass sie zusammenhalten müssen, um in der Wüste zu bestehen. Zugegeben: Auch dieses Volk beklagte sich über die harten Lebensbedingungen in der Wüste, aber wenn sie murrten, dann geeint mit einer Stimme.
Zu einer eingeschworenen Gemeinschaft ist das Israelitische Volk geworden, und auch Gott hebt diese Menschengruppe aus der gesamten Menschheit hervor: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott“ (V. 2). Gott gibt seinem Volk Anteil an seiner Heiligkeit. Er erhöht dieses landlose Volk. Diese Gruppe Geflüchteter wird plötzlich etwas Besonderes: Ein Volk von Heiligen.

Die andere Seite der MedailleFür die Israeliten ist das natürlich eine enorme Wertschätzung: Sie gehören zu diesem Gott. Zu jedem und jeder hat er eine Beziehung und sieht den einzelnen Menschen. Wie wunderbar es ist, zu einem heiligen Volk zu gehören, das tut dem Selbstbewusstsein gut!
Doch eine solche Aufwertung eines einzelnen Volkes hat natürlich Konsequenzen: Schnell ist die Welt eingeteilt in „heilig“ und „nicht-heilig“. Wir und die Anderen. Insider und Outsider. Plötzlich zeichnen sich schroffe Furchen zwischen Menschengruppen ab.
Großartig ist daher, dass die Heiligung des Volkes an Regeln geknüpft ist. Gott gibt seinem Volk einen Verhaltenskodex an die Hand, an dem die Heiligkeit zu erkennen ist. Vieles wird im Predigttext aufgezählt, und die Stoßrichtung ist klar erkennbar: Es geht um ein gutes Miteinander innerhalb der eigenen Volksgemeinschaft.
Und die Aufzählung läuft auf einen Satz zu, den wohl jeder und jede von uns kennt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (V. 18).

NächstenliebeEs ist einer der prominentesten Sätze, die mit dem Christentum in Verbindung gebracht werden. Man könnte viel darüber erzählen und nachdenken, wie Jesus dieses Gebot später aufnehmen wird.
Heute soll der Blick allerdings auf einem anderen Aspekt liegen. Denn das Nächstenliebegebot, wie der Vers oftmals genannt wird, wird nur ein paar Verse später noch einmal wiederholt. Diesmal sind nicht die Mitglieder des Israelitischen Volkes im Blick, sondern die Fremden.
„Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst“ (V. 33f).
Erhellend ist es in diesem Zusammenhang, über eine alternative Übersetzungsmöglichkeit nachzudenken, denn der Hebräische Text ist keineswegs so eindeutig. Die Formulierung, die uns so wohl bekannt ist „du sollst ihn lieben wie dich selbst“ kann auch so übersetzt werden: „Du sollst ihn lieben, er ist wie du.“
Gott weist damit auf das hin, was eigentlich eindeutig ist: Der Fremdling ist ein Mensch wie du. Er gehört einer anderen Volksgruppe an; er mag eine andere Hautfarbe haben; er spricht eine andere Sprache. Aber zugleich ist er ein Mensch, der Bedürfnisse hat; der von Ängsten herumgetrieben wird; der Fehler macht und darin ist er dir gleich.

Gräben heuteLiebe Gemeinde, Gräben zerfurchen heute unsere Gesellschaft. Schroff sind ihre Kanten und unversöhnlich blicken sich die Menschen über die tiefen Furchen hinweg an. Als Christinnen und Christen sind wir Teil des Heiligen Volkes. Wir haben eine Beziehung zu Gott, und die ist verbunden mit einem Auftrag: Wir sollen uns für das Gemeinwohl einsetzen – für die Sprachlosen die Stimme erheben, die Freiheit verteidigen und uns für Menschenrechte und Demokratie einsetzen.
Dieser Auftrag geht wohl einher mit der Einsicht, dass wir die Gräben und Furchen dieser Gesellschaft nicht heilen können – es gibt rote Linien, es gibt Meinungen, Einstellungen und politische Ideologien, gegen die wir als Christen einstehen müssen, weil sie das Gemeinwohl gefährden.
Der göttliche Auftrag verlangt also einen Balanceakt von uns, denn auch der politisch Fremde ist ein Mensch. Auch wenn ich seine Gedanken, Äußerungen und Ansichten nicht verstehe und gar ablehne, gilt auch ihm: „Du sollst ihn lieben, er ist wie du.“ Der Fremde ist ein Mensch, der Bedürfnisse hat; der von Ängsten herumgetrieben wird; der Fehler macht, und darin ist er mir gleich.
Für das Gemeinwohl einstehen und das Menschsein des anderen nicht vergessen – das ist ein Drahtseilakt, der Mut verlangt. Der aber auch Hoffnung in sich birgt. Hoffnung, dass aus dem Drahtseil eine Brücke wird. Amen.

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