12. Sonntag nach Trinitatis (18. August 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Angelika Segl-Johannsen, Bad Mergentheim [Angelika.Segl@elkw.de]

Lukas 13,10–17

Intention„Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ Hilde Domin

Predigttext (zugleich Schriftlesung)Und er lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit! Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.
Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag. Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Musste dann nicht diese, die doch eine Tochter Abrahams ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden? Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.

Frauen gehören in die zweite Reihe!Eine Kirchengemeinderatswahl vor etlichen Jahren fällt mir ein, liebe Gemeinde. Meine Großmutter lebte noch, und in meinem Heimatdorf war die Wahl sehr knapp ausgegangen: Die letzte Kandidatin, die ins Gremium kam, war eine Frau. Eine Stimme weniger hatte ein männlicher Bewerber, der es deshalb nicht mehr ins Gremium geschafft hatte. Da erregte sich meine Großmutter über die Maßen und fand, es gehöre sich, dass die Frau zurücktreten solle, um dem Mann den Vortritt zu lassen. Ich erinnere mich an unsere heiße Diskussion, die sich anschloss. Aber ich konnte sie nicht überzeugen. Zu sehr hatte sie in ihrem Leben gelernt und erfahren, dass Frauen in die zweite Reihe gehören, dass sie gefälligst den Mund zu halten haben, wenn Männer sprechen und ihnen die Entscheidungen zu überlassen.
In unserem Kulturkreis hat sich das Gott sei Dank geändert, anderswo ist es immer noch so.

Das Leiden einer FrauIn der Jesusgeschichte, die wir in der Schriftlesung gehört haben, begegnen wir heute einer kranken Frau, die den Mut gehabt hatte, in die Synagoge zu kommen, um dort Jesus predigen zu hören, von dem natürlich das ganze Dorf gehört hatte. Aber auch sie kannte ihren Platz als Frau, zudem als kranke Frau. Sie verkroch sich in den letzten Winkel des Raums, abgesondert von den anderen und besonders von den Männern, die im Zentrum des Geschehens standen.
Ihr Name ist, wie meist von Frauen, die in biblischen Texten vorkommen, nicht überliefert. Sie wird übersehen, nicht wahrgenommen, führt ein Schattendasein, zurückgezogen auch in der Synagoge in den hintersten Winkel.
Was erfahren wir von ihr? Sie ist seit 18 Jahren krank, ist verkrümmt und kann sich nicht aufrichten. Heute hätten unsere Orthopäden sofort die Diagnose „Skoliose“ zur Hand. Wir kennen Frauen, aber auch Männer, die nur noch gekrümmt durchs Leben gehen können, den Blick auf den Boden gerichtet, wo sie nur ihre Füße sehen oder Schuhe, dazu Dreck und Abfall. Der Versuch, sich aufzurichten und jemandem ins Gesicht zu schauen, ist mit unendlichen Schmerzen verbunden und geht eigentlich gar nicht.

Gründe für VerkrümmungenVermutlich gibt es viele Gründe, dass ein solches Krankheitsbild entsteht. Das ganze Leben immer viel zu viel körperliche Arbeit voller Belastungen lässt Menschen schrumpfen und sich krümmen. Aber es gibt auch Verkrümmungen, die nicht äußerlich sichtbar sind, die die Seele verletzt haben. Viele Geflüchtete, die zu uns kommen, zumal Frauen, haben Schreckliches und Traumatisierendes erlebt. Und manchmal weiß man nicht, ob sie sich noch einmal wirklich aufrichten können und der Welt in die Augen schauen können. Aber wir müssen gar nicht so weit gehen. Da gibt es auch bei uns selbst eine ganze Kette von Lebenserfahrungen, die sich tief einprägen. Man denkt: Ich rackere mich ab, ich opfere mich auf für die Kinder, für den Mann, für die alten Eltern – und niemand sagt Danke. Niemand sieht, wie viel das ist und wie schwer.
Oder man hat den Eindruck: Ich schaff den Dreck, aber das Sagen und den Einfluss haben immer die anderen. Mag sein, da ist der Tod des Partners, der nie richtig verwunden wurde.
Nicht immer ist das, was einen Menschen niederdrückt und belastet, körperlich so sichtbar wie bei dieser verkrümmten Frau.

Jesus setzt heilige Ordnungen außer KraftUnd nun beginnt eine ganz besondere Geschichte. Jesus, der doch eigentlich zum Predigen in die Synagoge gekommen ist, sieht diese kleine verhutzelte Frau in der hintersten Ecke. Er sieht sie nicht nur, sondern erkennt sie, ahnt, was sie in ihrem Leben mitgemacht hat und wie es zu diesem schrecklichen Zustand gekommen ist. Und was er sieht, berührt ihn so, dass er heilige Ordnungen außer Kraft setzt. Er weiß auch, dass sie es niemals wagen würde, zu ihm zu kommen und um Heilung zu bitten. Und deshalb ergreift Jesus selbst die Initiative, spricht sie an, bittet sie nach vorne in die Mitte. Sie tut das tatsächlich, aber es muss sie eine unglaubliche Überwindung gekostet haben.
In großer Freiheit durchbricht Jesus sämtliche Ordnungen. Frauen dürfen, so eine weit verbreitete Meinung, nicht nach vorne in den Raum der Männer kommen und sich sowieso auch nicht öffentlich äußern. Außerdem ist es nicht erlaubt, am Sabbat zu heilen, denn das ist Arbeit. Jesus verwischt auch die vorgeschriebene Distanz zwischen Männern und Frauen in der Synagoge. Außerdem hat man damals strikt darauf geachtet, Kranke und Gesunde zu trennen. Sonst könnte ja der böse Krankheitsgeist auf einen überspringen, so die Vorstellung. Aber wichtiger als das alles ist jetzt, dass Heil geschieht, dass die Frau sich aufrichten kann, alle Last abwerfen kann und der Welt wieder in die Augen sehen kann.
Jesus berührt die Frau, so wie er nie Vorbehalte hat gegenüber Kranken, und sie kann sich aufrichten.

Noch ein Verkrümmter?Da bleibt dem Synagogenvorsteher, der doch zuständig ist für den richtigen Ablauf des Gottesdienstes, die Luft weg. Es hält ihn nicht länger auf seinem Stuhl, hier muss er eingreifen. Zwar traut er sich nicht, Jesus direkt anzugreifen. Also blafft er die Besucher an, sie sollen die Woche hindurch kommen, sich heilen zu lassen, nicht am Sabbat. Dass alles, was ihm heilig ist, so über den Haufen geworfen wird, empört ihn. Es muss doch alles seine Ordnung haben. Nein, meint Jesus, viel wichtiger als die Ordnung ist es, dass dieser Frau geholfen wird. Jesus nennt die Frau eine Tochter Abrahams. Das ist ein Ausdruck, der sonst nicht mehr im Neuen Testament vorkommt. Und es ist ein erstaunlicher Ausdruck, denn er stellt die Frau auf eine Ebene mit Abrahams Sohn Isaak, der – Sie erinnern sich – schon gebunden war und beinahe geopfert worden wäre, als Gott eingegriffen hat und damit ein für alle Mal klargemacht hat, dass er nicht Opfer möchte, sondern das freie, ungebundene Leben seiner Geschöpfe. So wie auch die Fesseln dieser Frau durch Jesus gelöst worden sind.
Wir haben in unserer Geschichte also nicht nur eine verkrümmte Frau, sondern auch einen verkrümmten Mann, den Synagogenvorsteher, der alles richtig machen will, der sich wirklich an die Vorschriften halten will, weil die doch Sicherheit geben. Seine rigide Gebundenheit an das, was sich gehört und nicht gehört, hat ihn zwar nicht sichtbar gekrümmt, aber innerlich starr gemacht, so dass er sich nicht dem Leben und der Liebe zuwenden konnte, dass er nicht die besondere Zeit erkannt hat, die angebrochen ist mit der Gegenwart Jesu.

Meine VerkrümmungenDie Geschichte stellt uns zwei sehr unterschiedlich verkrümmte Menschen vor Augen.
Und ich frage mich, wo meine Verkrümmungen liegen. Das kenne ich, dass ich mich verbeiße in eine Aufgabe, mich durchwühle und dabei das Leben, die Sonne und den Himmel vergesse. Mich nicht mehr aufrichte und durchatme. Ich habe bestimmte Vorstellungen. Kann ich sie auch über den Haufen werfen, wenn es nötig ist? Ich meine, etwas müsse so oder so ablaufen, aber die Menschen, die mit mir arbeiten, sehen das ganz anders. Bin ich noch lebendig und geschmeidig genug, im Lebensstrom mitzufließen und zu erkennen, was dran ist?
Und wie ist das mit meinem Blick auf andere? Kann ich von Jesus diesen Blick lernen, der tiefer sieht, der spürt, was ein Mensch braucht? Kann ich die Verkrümmung wahrnehmen, auch wenn sie nicht sichtbar ist?
Kann ich gnädig schauen auf die Fesseln, die auch heute noch viele Frauen binden? Und mir klarmachen, wie lange manchmal der Weg der Befreiung ist?
Wir wissen, ein Blick kann sehr unterschiedliche Qualitäten haben. Jesu Blick, der Blick der Liebe und der Zuwendung und des Respekts, lässt Menschen sich aufrichten, lässt aufatmen und bringt das Beste in ihnen ans Licht. Ein vernichtender, abschätziger Blick stößt Menschen zurück in ihre Verkrümmung und ihre Einsamkeit.
Gott will für seine Menschen den aufrechten Gang, den Leben schaffenden Geist, die höchste Würde.
Gott will den aufrechten Gang für die Verzweifelten und die von Angst Niedergedrückten.
Und so bitte ich um Jesu Blick, der aufatmen lässt und befreit, dass unter uns Gottes Geist spürbar werden kann.

Nach der HeilungManchmal darf ich das erleben, dass ein Mensch, der hier zu seiner Reha ist, nach einem Gespräch, oder nach dem Handauflegen sich aufrichtet; im übertragenen Sinne, dass eine Einsicht gewonnen wurde, oder ein Zugang zu einem Gefühl gefunden wurde. Manchmal ist das eine atemberaubende Erfahrung, ein tiefes Aufatmen. Aber dann vergeht Zeit, und beim nächsten Gespräch ist etwas passiert, das das Erkannte und Erlebte wieder in Frage stellt, anzweifelt. Vielleicht ist es der Ehepartner daheim, der sich kritisch geäußert hat, oder Zweifel sind einem gekommen, man glaubt sich selber nicht, ist unsicher, und hat Angst, eingefahrene Wege zu verlassen. Man hat sich schon so an die Verkrümmung gewöhnt. Und was sagen die Leute, wenn man plötzlich so ganz anders lebt? Was sagt der Ehemann, was die Kinder?
Neue Wege zu gehen, ist nicht einfach, es erfordert Mut und Frustrationstoleranz.
Wir erfahren nicht, wie das Leben der nun nicht mehr verkrümmten Frau weitergegangen ist. Achtzehn Jahre verkrümmt leben, ist eine lange Zeit.
Unser bisheriges Leben, das uns durch so manche Verkrümmungen beschwert hat, kann nicht einfach so weggewischt werden. Umso wichtiger, dass wir es in Erinnerung behalten: Und doch, Gott will den aufrechten Gang für die Verzweifelten und die von Angst Niedergedrückten.
Gott will für alle Frauen und Männer den aufrechten Gang, den Leben schaffenden Geist, die höchste Würde. Trauen wir es uns und anderen immer wieder zu? Amen.

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