5. Sonntag nach Trinitatis (30. Juni 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Friedemann Bresch, Rottenburg [bresch72072@aol.com]

2. Korinther 11,18.23–30; 12,1–10

IntentionMenschen sind immer in der Gefahr, auf Stärke zu setzen und den (scheinbar) Starken nachzulaufen. Demgegenüber wendet sich Gott den Schwachen zu und gibt ihnen Kraft. Paulus setzt deshalb ganz auf die Gnade Gottes. Das führt ihn in schwierige Auseinandersetzungen mit seiner Gemeinde in Korinth.

PredigttextDa viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen. Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin’s weit mehr! Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht? Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen.
Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Paulus ist tief getroffenLiebe Gemeinde, so leidenschaftlich, so persönlich kennen wir Paulus sonst nicht. Wir kennen ihn als exzellenten Theologen mit ausgefeilten Formulierungen. Hier aber wird er emotional und sarkastisch. Was ist da los?
Nun, Paulus steht in einer harten Auseinandersetzung mit seiner Gemeinde und um seine Gemeinde. Er hatte sie gegründet und war glücklich darüber, wie sie wuchs und gedieh. Man spürt förmlich, wie sein Herz an ihr hängt. Dann aber waren andere Apostel gekommen. Die hatten ihn und sein Evangelium schlecht gemacht. Was denn schon an diesem kleinen Männchen dran sei, so fragten sie. Als Redner sei er eine Katastrophe, von Charisma nichts zu spüren, und Wunder habe er auch keine vorzuweisen. Bei ihnen hingegen, wenn sie redeten, fielen Menschen in Trance, riefen „Hallelujah!“ und „Amen!“ und viele unverständliche Worte. Da war etwas geboten. Von der Herrlichkeit Jesu erzählten sie und dass bei ihm alle Probleme gelöst seien. Hier sei eine unbegrenzte Kraft zu finden, die alle Feinde besiege und die Menschen in ganz andere Sphären hebe. Wie zum Beweis strahlten sie Schönheit aus, Selbstsicherheit, Kraft, Vollmacht. Die Zuhörer fielen reihenweise in Ekstase, und manches Wunder geschah.
Das war natürlich beeindruckend, und viele liefen diesen Aposteln nach. Andere wurden still und verloren den Kontakt zur Gemeinde. Bei ihnen lief es nicht so rund, auch wenn sie noch so viel beteten. Die finanziellen Sorgen blieben, die körperlichen Beschwerden drückten wie vorher. Nur konnten sie jetzt nicht mehr darüber reden. Das passte nicht mehr in die Stimmung der Gottesdienste. Nicht nur einmal hatten sie zu hören bekommen, dass sie dann wohl nicht richtig glaubten. Denn sonst wären sie gesund und glücklich.

Gnade als Zentrum der paulinischen TheologieSolche Nachrichten trafen Paulus an seiner empfindlichsten Stelle. Natürlich fühlte er sich auch persönlich angegriffen. Aber viel schlimmer war, dass es das Zentrum seines Glaubens traf. Er hatte ja selbst einmal so gedacht. Er hatte es für gotteslästerlich gehalten, einen jämmerlich am Kreuz Gestorbenen als Gottes Messias zu bezeichnen. Bis ihm Jesus begegnete und sein Leben auf den Kopf stellte. Oder vielmehr vom Kopf auf die Füße. Nach drei Tagen Finsternis war ihm aufgegangen: Gott hatte schon immer eine Schwäche für Kleine und Schwache. Sarah und Hannah litten lange darunter, dass sie keine Kinder hatten. Mose musste seinen Bruder Aaron mit zum Pharao nehmen, weil er ein schlechter Redner war. David war der Jüngste, den niemand auf der Rechnung hatte. Die Propheten wurden verspottet und misshandelt. Jesaja redet gar von einem Knecht Gottes, der von Gott geschlagen wird und so Erlösung schafft. Gott, so wurde Paulus klar, ist nicht in erster Linie in Größe und Stärke zu suchen, sondern dort, wo Menschen zerbrochen sind und Hilfe brauchen. Es geht deshalb nicht um ekstatische Erlebnisse, um Beweise von Macht und Herrlichkeit. Es geht allein um Gottes Gnade, die in der Schwachheit wirkt. Gott gegenüber, so ist Paulus überzeugt, habe ich nichts vorzuweisen, was ein Anrecht auf seine Zuwendung begründen würde. Wenn er mich liebt, dann allein aus seiner überströmenden Liebe und Gnade.
Das aber war zugleich sein großer Trost geworden. Denn meine Attraktivität verfällt, meine Stärke geht dahin, meine Verdienste sind fragwürdig. Auf all das lässt sich kein stabiles Leben bauen. Allein die Liebe Gottes bleibt in Ewigkeit.
Deshalb wird Paulus hier sarkastisch. Er macht sich selbst zum Narren, und anstatt seine Vorzüge zu präsentieren, zählt er seine Leiden auf, seine Sorgen, sein Scheitern. Für mich malt er damit zugleich vor Augen, was Menschen auch heute alles erleiden. Er montiert sich und sein Leben sozusagen ein in die Leiden der Menschheit. Da sieht er seinen Platz und ist damit in der Nachfolge dessen, der das Leiden der Welt am Kreuz getragen hat. Deshalb ist er auch dort, wo er von einem bemerkenswerten ekstatischen Erlebnis erzählt, einer Reise ins Paradies, sehr zurückhaltend. Er redet unpersönlich in der dritten Person, so als hätte ein anderer diese Erfahrung gemacht. Er will nicht mit seinem Licht dem Licht der Gnade im Weg stehen. Denn dieses wird eben in den Brüchen sichtbar.

Folgerungen für heuteLeonard Cohen fällt mir ein mit seinem Lied „Anthem“:
„Ring the bells that still can ring,
Forget your perfect offering.
There is a crack, a crack in everything:
That’s how the light gets in.”
Also: „Läute die Glocken, die noch klingen, vergiss deine perfekte Gabe. Da ist ein Riss, ein Riss in allem: So kommt das Licht herein.“
Und ich denke: Ja, so ist das auch heute. Die Menschen präsentieren sich am liebsten als perfekt. Das macht Eindruck. Jeden Tag aufs Neue arbeiten wir an der Perfektion unseres Auftretens. Und wenn wir nicht selbst perfekt sind, dann wollen wir wenigstens perfekte Überzeugungen, Leistungen und Opfer vorzuweisen haben. Menschen laufen denen nach, die sich stark geben. Und die, die nicht mitkommen, werden wütend und aggressiv. Dabei liegt die Lösung der Probleme darin, zu den Schwächen zu stehen, die Wunden zu achten, auf Gottes Hilfe zu vertrauen und sich gegenseitig zu helfen. Nur so kommt das Licht der Liebe zu uns.
Das ist die Bedeutung des gern zitierten Satzes: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Manche empfinden ihn als zynisch, als Vertröstung in einer prekären Lage, zum Beispiel einer schlimmen Krankheit. Für Paulus aber bekam seine Krankheit einen Sinn. Wir wollen ja gerne Sicherheiten. Wir wollen wissen, dass alles gut ist oder dass wir wenigstens die Mittel haben, alles gut zu machen. Das ist menschlich und verständlich. Christus aber mutet Paulus zu, sich allein auf die Gnade zu verlassen und darauf, dass Gott für ihn da ist. Aber er ist nicht unser Besitz, und wir können nicht darüber verfügen, wie er für uns da ist. Deshalb versteht Paulus seine Krankheit als eine ständige Übung des Vertrauens auf Christus. Und genau das macht ihn stark.
Amen.

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