22. Sonntag nach Trinitatis (05. November 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Markus Eckert, Fellbach [markus.eckert@elkw.de]

1. Johannes 2,12-14

IntentionVergebung anzunehmen, fällt vielen schwer. Manchmal steht man sich selbst im Weg, aber Gott hört nicht auf, zu lieben und zu vergeben.

Liebe Kinder, liebe Väter, liebe jungen Männer,
das sei am Anfang gesagt: Manchmal steht sich der biblische 1. Johannesbrief, den wir gleich hören werden, auch selbst im Weg. Denn: Diese Anrede: „Liebe Kinder, liebe Väter, liebe jungen Männer…“ führt bei nicht wenigen dazu, dass sie die Ohren zuklappen oder auf Durchzug stellen. Zuallererst die, die sich nicht als „Kinder“ ansprechen wollen. Dann alle, die, die keine Väter sind und dann natürlich noch alle, die keinen jungen Männer sind. Denn sie alle, also die Frauen, sind nicht angesprochen.
Dazu kommen noch diejenigen Männer und Frauen, die bei so viel Männlichkeit in einem biblischen Text allergisch reagieren. Weil ihnen in der Kirche und in der Bibel sowieso viel zu viel über und von Männern geredet wird, obwohl Frauen den Laden am Laufen halten. Vor allem den „Laden“ Kirche!
Dabei redet der 1. Johannesbrief doch so ergreifend von der Liebe. Er identifiziert Gott mit Liebe. Aber gerade, weil sich der Brief auch selbst im Weg steht, finde ich ihn auch auf eine Art tröstlich.

Mit dieser Warnung vorneweg, lese ich uns diesen Abschnitt aus dem 1. Johannesbrief, Kapitel 2, die Verse 12-14:
„Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden.“

Du bist frei!Es passiert plötzlich, dass der Briefschreiber nicht nur in seltsame Anreden verfällt, sondern auch in eine Art von Gedicht. Ich kann den Text gar nicht so einfach lesen und verstehen. Durch seine Wiederholungen und leichte Abwandlungen merke ich, dass sich hier etwas verdichtet. Ich versuche, es wieder auseinander zu nehmen: Es geht um Sündenvergebung, darum, dass alle ja den Vater erkannt hätten und darum, dass „der Böse“ ja überwunden und besiegt sei.
Wenn ich das alles zusammennehme, höre ich vor allem diese Zusage: „Lieber Mensch, erinnere dich: Es ist schon alles geschehen! Du bist frei, weil Gott dir schon längst vergeben hat!“

Du bist frei, Mann!Liebe Gemeinde, nehmen wir doch mal an, dass der Briefschreiber wirklich nur an Männer schreiben will. Dass er an Väter schreiben will, die für sich sagen, dass sie Verantwortung der Familie gegenüber tragen. Und an junge, wehrfähige, kräftige Männer, die im Zweifel ihr Leben und ihren Körper opfern. Für die Arbeit, für den Krieg. Männer, die nicht wissen, ob sie dem gerecht werden können, was sie von sich selbst verlangen.
Vielleicht ist es ja gut, dass er ihnen direkt schreibt. Gerade den Männern zu sagen: Hört mal in euch hinein! Hört mal darauf, was euch bestimmt: die Arbeit, die Verantwortung, die körperliche Last. Vielleicht haben es die besonders nötig zu hören: Du darfst frei sein in deinem Leben, weil Gott schon alle Hindernisse, die dein Leben bestimmen, aus dem Weg genommen hat.
Es geht ja gar nicht darum, damit aufzuhören. Aber muss das Alles das ganze Leben bestimmen oder sind das vielleicht nur Ausreden, dass ich mich nicht mit mir selbst beschäftigen muss? Vielleicht würde der Johannesbriefschreiber sagen: Verantwortung und Arbeit sind ja alles schöne Dinge, aber die machen nicht frei. Die Vergebung durch Gott macht frei.
Mag sein, dass dieser Gedanke besonders Männern hilft. Und vielleicht hilft es ihnen auch. diese Freiheit anzunehmen, wenn sie sich klar machen: auch Frauen arbeiten, übernehmen Verantwortung und haben einen Körper, der Kraft hat. Und bestimmt hilft es auch, das immer wieder, wie hier im Johannesbrief, zu hören: Du bist frei! Ich vergebe dir! Wobei das gar nicht so einfach ist, gesagt zu bekommen, dass einem vergeben wird.
Vergeben ist einfacher als Vergebung anzunehmen
Ich habe nämlich zwei Männern zugehört, die über Vergebung gesprochen haben: John Cook und Hagen Decker. Der eine ist Regisseur, der andere Erzieher. Sie haben sich bei einer Therapie kennengelernt, denn sie waren beide süchtig nach Kokain. Inzwischen nehmen sie ihre Droge nicht mehr, aber ihr Weg ist immer noch nicht zu Ende. Sie werden immer süchtig bleiben. Im Podcast „Sucht & Süchtig“(1) erzählen sie von ihrem Weg, von dem, was sie daran hindert so zu leben, wie sie wollen.
Zugegeben, bei den beiden geht es noch um ganz andere Dinge. Um ihre Sucht finanzieren zu können, haben sie nämlich wirklich Schuld auf sich geladen. Aber sie verwenden ein Bild, das mir gefällt: Sie erzählen von einem Rucksack, den sie mit sich herumschleppen. Einen Rucksack voller Verantwortung.
John Cook fragt sich, wie es besser werden könnte und kommt zu dem Schluss: „Wir müssen anderen Leuten vergeben – und wir müssen auch annehmen, dass andere Leute uns vergeben. (Dabei ist) Vergeben deutlich einfacher als Vergebung anzunehmen.“
Ich finde, da hat John Cook recht. Ich muss nicht drogenabhängig sein, um hier zuzustimmen. Ich trage einen Rucksack mit Verantwortung mit mir herum und auch für mich gilt: Vergeben ist leichter als Vergebung anzunehmen.

Therapie: Ehrlichkeit und WiederholungUnd ich wünschte manchmal, ich könnte auch in Therapie gehen, wie John das erzählt hat. Da konnte er das erste Mal alles abgeben und das erste Mal auch ehrlich zu anderen und zu sich sein. Manchmal wünschte ich mir, dass ich das auch könnte, mich ganz ehrlich zu machen und zu sagen: Ich schaff das alles nicht mehr. Ich wünschte mir, ich müsste nicht mehr Zeit damit verschwenden, anderen Menschen zu erzählen, was für ein toller Hecht ich bin, sondern sagen könnte: Ich fühle mich manchmal wie ein armes Würstchen, weil mir die Last meiner Verantwortung und aller meiner Aufgaben zu schwer wird. Manchmal habe ich schon Angst, dass ich meinen Aufgaben und meiner Verantwortung nicht mehr gerecht werde und ich damit in meinen und in den Augen anderer nichts mehr wert bin.
Und ich höre den Johannesbriefschreiber, wie er mir sagt: Das meine ich doch! Es tut mir leid, dass ich das nicht besser ausdrücken konnte und dass ich durch meine Anreden (Kinder, Väter, junge Männer) Frauen ausgeschlossen habe.
Aber siehst du: Ich weiß auch nicht immer alles besser. Auch ich steh mir manchmal im Weg. Mein Brief, den ich geschrieben habe, steht seiner eigenen Botschaft vielleicht im Weg. Und vielleicht ist dir das sogar ein kleiner Trost. Auch ich werde meiner Aufgabe nicht immer gerecht.
Also: Du darfst dich fallen lassen. Du darfst ehrlich sein. Du darfst stark sein und du darfst schwach sein. Du darfst Verantwortung übernehmen und scheitern. Wahrscheinlich weiß auch Gott: Vergebung anzunehmen ist schwierig. Aber bei Gott gilt eben nur: Er liebt dich, so oder so.
Und: Sagt euch das weiter. Sagt euch das gegenseitig. Immer wieder. Damit der Rucksack, den ihr durchs Leben tragt leichter wird.
Amen.

Quellenhinweis
1 Sucht & Süchtig · Noch nicht 100 Prozent Mensch · Podcast in der ARD Audiothek

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