3. Sonntag nach Trinitatis (25. Juni 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Georg List, Leonberg [Georg.List1@gmx.de]

Jona 3,10; 4,1-11

IntentionDie Drohpredigt des Propheten Jona bewirkt in Ninive eine überraschende Wendung zum Guten, die auch bei Gott eine Wendung auslöst: Er verschont die Stadt, die wegen ihrer Bosheit berüchtigt und gefürchtet war (Jona 3). Ist das gerecht? Jona beharrt auf der strafenden Gerechtigkeit Gottes, dieser auf seiner Güte und seinem Herzenswunsch, Neuanfänge zu ermöglichen. Die Auseinandersetzung darüber ist Inhalt des 4. Kapitels und der Predigt, die, wie der Bibeltext, dialogartig angelegt ist. Das Gewicht liegt auf der Einladung Gottes an Jona und an uns, seiner Wendung zur Güte zu vertrauen, die neue Möglichkeiten schafft, sich mit ihm und den geretteten Niniviten mitzufreuen und diese Wendung in unserem Leben aktiv nachzuvollziehen. Kinder können uns dabei ein Vorbild sein, wie Jesus es gesagt hat.

Vorgeschichte und Predigttext„In Moskau sitzt ein Terrorregime“, sagt der ukrainische Präsident. „Es darf nicht ungestraft davonkommen.“
So ähnlich haben sie in Israel von Ninive gesprochen. Deswegen hat Gott den Propheten Jona beauftragt, in diese große Stadt zu gehen und gegen die Bosheit der Menschen dort zu predigen. Das erste Mal hat Jona versucht, diesem Auftrag zu entfliehen – vergeblich! Beim zweiten Mal folgt er. Manche Wendungen liegen schon hinter ihm. Wunderhafte Dinge sind geschehen, die Geschichte mit dem großen Fisch ist die bekannteste. Das größte Wunder aber ist, dass alle, die in Ninive wohnen, nach der Gerichtspredigt des Jona sich von „ihrer Bosheit abwenden“. Dabei hoffen sie auf ein noch größeres Wunder: „Wer weiß“, sagen sie, „wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben“ (3,9)?
Damit beginnt unser Predigtabschnitt. Er erzählt von dieser Umkehr Gottes und der Reaktion Jonas. Ist er bereit, dieser heilsamen Wendung zu folgen. Und sind wir es?

„Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.
Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig und betete zum HERRN und sprach: Ach, HERR, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, HERR, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Aber der HERR sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst?
Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Gott der HERR aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus.
Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben.
Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und der HERR sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts und links ist, dazu auch viele Tiere?“

Handelt Gott gerecht? Die Auseinandersetzung zwischen Jona und Gott
1. (Jona)
Schließlich bin ich doch nach Ninive gegangen. Dort habe ich ausgerufen, was Gott mir aufgetragen hat: „Es sind noch vierzig Tage, dann wird Ninive untergehen“ (3,4)! Dann habe ich mir hier, etwas außerhalb, eine Hütte gebaut. Ich will sehen, was jetzt geschieht. Aus meiner Sicht kann’s nur ein schreckliches Strafgericht sein. Damit bliebe Gott glaubwürdig und ich als sein Prophet ebenso.

2. (Gott)
Da sitzt er also und schaut, was in der Stadt passiert. Dass sich dort alle, Groß und Klein, bewegen und ihr Leben radikal ändern, bewegt ihn anscheinend nicht. Mich aber hat im Innersten bewegt, was ich gesehen habe. Ich war fest entschlossen, ein zorniges Strafgericht zu halten. Das hat Jona richtig verkündigt. Aber: „Ninive wird zerstört“, das kann auch heißen: Es wird „umgewendet“. Das haben die Leute wohl auch aus meinem Wort herausgehört und damit mehr verstanden als mein Prophet. Und sie haben sofort ihr Leben „umgewendet“. Als ich ihr Tun sah, konnte ich das angedrohte Unheil nicht mehr tun. Es reute mich. Nicht weil es falsch gewesen wäre, sondern weil mir nicht gleichgültig ist, welches Schicksal den Menschen droht und wie sie sich verhalten.
Dem Jona wird das nicht gefallen, fürchte ich, so wie er sich bisher verhalten hat.

3. (J): Gibt´s denn so was? Die Botschaft war doch eindeutig! Wie kann man da überhaupt noch etwas hoffen? „Wer weiß?“ Das ist doch keine Basis! Was halten die von Gott? Dass der von jetzt auf nachher seine Meinung ändert? Und doch, er hat’s getan! Was soll ich dann von ihm halten?
Mir ist alles hochgekommen, was mir von Anfang an aufgestoßen ist und warum ich diesem Auftrag, diesem Gott entfliehen wollte. Mich packt der Zorn, weil er sich von seinem Zorn abgewendet hat. Ich wusste es ja, ich habe es von Kind an aus der Bibel gelernt: Er ist „gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte und lässt sich des Übels gereuen.“ Das habe ich ihm vorgehalten. Ich habe fest geglaubt, dass seine Drohung gegen Ninive richtig ist. Denn es heißt doch auch: „Er lässt niemand ungestraft, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (2. Mose 34,7). Jetzt stehe ich völlig unglaubwürdig da – und er auch!
Was ist das für eine Gerechtigkeit, wo die Verbrecher ohne Strafe davonkommen? Selbst wenn Putin und seine Helfershelfer, selbst wenn die Kriegsverbrecher von Butscha vielleicht nie vor Gericht gestellt werden, ist es doch richtig, ihre Untaten zu dokumentieren und zu verurteilen. Menschliche Gerechtigkeit wird immer unvollkommen bleiben. Aber doch nicht Gottes Gerechtigkeit! In einer Welt, in der sogar das in Frage steht, will ich nicht mehr leben!

4. (G): Das war ein heißer Zornesausbruch, und er ist immer noch nicht abgekühlt! Auf meine Frage „Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“ hat Jona nicht geantwortet. Und ich muss zugeben: Es gibt ganz sicher Taten unter den Menschen, die Zorn verdienen und nicht ohne schlimme Folgen bleiben, im Persönlichen und darüber hinaus, manchmal über Generationen, „bis ins dritte und vierte Glied“.

Wissenschaftler und Aktivistinnen kündigen es an: Nicht länger als dieses Jahrzehnt habt ihr Zeit, die Erwärmung der Erdatmosphäre einigermaßen zu begrenzen. Wenn die Maßnahmen nicht deutlich konsequenter und schneller werden, sich bei euch nichts „umwendet“ und ihr nicht schnell „umkehrt“ von euren Taten, eurem Lebensstil, wird sich alles katastrophal „umwenden“ mit verhängnisvollen Folgen für Pflanzen, Tiere und Menschen. Ihr seid die „letzte Generation“, die noch etwas dagegen tun kann. Wenn nicht, werdet ihr vielleicht die „letzte Generation“ überhaupt sein! Hört ihr auf solche Propheten – und reagiert entsprechend? Niemand kann mit letzter Sicherheit sagen, wie sich’s entwickeln, wie es ausgehen wird. Aber „wer weiß?“ So haben die Leute in Ninive gefragt, und das nicht aus Fatalismus. Sie haben vielmehr begonnen, entschlossen zu handeln.

Wer weiß? Vielleicht auch ihr?
Sei’s aus Einsicht oder durch den Druck schlimmer Ereignisse wie Hitzewellen und dergleichen.
Vielleicht wächst der Druck in der Bevölkerung auf Politik und Wirtschaft so, dass sich alle verändern.
Wer weiß, ob der (Über-)Lebenswille der Menschheit nicht doch stärker ist als das selbst herbeigeführte Verhängnis?
Wer weiß, ob die Kirchen, ihr Christenmenschen, die Gläubigen aller Religionen sich nicht auf das besinnen, was ihr Eigenes ist, nämlich, wie die Leute in Ninive es getan haben: an mich zu „glauben“, zu „fasten“ (das heißt ja: nicht immer nur mehr zu wollen) und „heftig zu mir zu rufen“ (3,5.7.8)? Ob nicht auch bei mir der Wille zum Leben stärker ist als der Zorn? Und dann mitzuleiden und mitzutun, wo es möglich ist, und sich nicht am sicheren Ort herauszuhalten wie Jona in seiner Hütte.
Ich will noch einmal versuchen, ihn aus seinem Zorn und seiner Verbitterung rauszuholen.

5. (J): Plötzlich war da ein Rizinusstrauch vor meiner Hütte gewachsen. Herrlich! In seinem Schatten war gut sein. Da konnte ich meinen Zorn vergessen, Ninive, die Kriege und all das Böse… Ich hatte zwar Gott gebeten: Nimm das Leben von mir. Aber so lässt sich’s leben, dachte ich. Es war ein kurzes Vergnügen! Schnell, wie er da war, ist der Rizinus wieder eingegangen. Das zeigt mir, wie wenig man sich aufs Leben, aufs Glück, auf Gott verlassen kann. Ich kann und will nicht mehr, „möchte lieber tot sein als leben“.

6. (G):
Jona hat sich so gefreut! Aber wie gut wäre es, er würde sich nicht nur über sein eigenes Wohlbefinden freuen, sondern im Schatten der Blätter daran denken, dass die ganze Zeit mein Schatten, mein Schutz, über ihm gewesen ist (Ps 91,1; Ps 121,5f). Hat er vergessen, wie ich
mich um ihn bemüht habe, einschließlich des Rizinus, den ich ihm geschenkt habe? Er wäre sonst schon längst nicht mehr am Leben. Er würde erkennen, wie mir die Menschen und Tiere in Ninive am Herzen liegen – und sich von Herzen mitfreuen, dass sie sich geändert haben und so gerettet wurden! Sich freuen an meinem Erbarmen, das er selbst so reichlich erfahren hat. Warum kann er es anderen nicht gönnen? Aber Mitleid hat er anscheinend nur noch mit sich selbst. Statt Erbarmen bleibt nur sein erbärmlicher Zorn – über eine einzige Rizinusstaude! „Mit Recht zürne ich bis an den Tod!“ Wenn’s nicht so traurig wäre, wär’s fast zum Lachen. Soll das sein letztes Wort sein? Ich will’s weiter versuchen. Ob er noch einsieht, dass das Leben wichtiger ist als eine festgelegte Wahrheit und eine stimmige Theologie? Ob er einsieht, dass Leben überhaupt unmöglich wird, wenn die Gerechtigkeit gnadenlos ist, wenn den Menschen (und mir!) die Chance auf einen Neuanfang verwehrt wird, wenn es kein Verzeihen gibt? Ich möchte mir das nicht vorstellen, nicht für eine Familie, nicht für ein Volk, nicht für die Welt überhaupt.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ (Mt 18,3)
7. (G): Noch einmal will ich Jona fragen und frage euch: „Mich sollte nicht jammern Ninive, die 120.000 Menschen, die nicht wissen, was links und rechts ist?“ Das sagt man normalerweise von Kindern. Sie können links und rechts noch nicht unterscheiden. Kinder unterscheiden auch noch nicht so genau, was wirklich und was möglich ist. Darum ist für sie nicht alles schon festgelegt. In ihrer Phantasie gehen sie über die Wirklichkeit hinaus. Sie denken nicht, wie ihr Erwachsenen, dass sich nichts verändert – oder wenn, dann nur zum Schlimmeren. Sie erwarten immer wieder Neues und probieren es aus. Wenn man es nicht zerstört hat, lebt in ihnen das Vertrauen, dass in ihrem Leben und in der Welt Dinge sich zum Guten wenden können, wo man’s nicht erwartet hat. Denn ich kann und will Neues schaffen. Deswegen sind die Kinder meinem Herzen nahe – genauso wie Tiere und Pflanzen und alles, was lebt!
Amen.

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