Palmarum / Palmsonntag (02. April 2023)

Autorin / Autor:
Dekan Frithjof Schwesig, Blaubeuren [frithjof.schwesig@elkw.de]

Johannes 12, 12-19

IntentionGottes Schweigen zum Leid in der Welt gehört für Christen zu den größten Anfechtungen. Die Predigt lädt ein, den Anfang des Leidensweges Jesu mitzugehen und mit Jesus und seinen Jüngern in Jerusalem einzuziehen. Dort nimmt das Leiden seinen Lauf. Wo nur noch Lärm, Geschrei und Gewalt regieren, sieht der Glaube weiter. Er sieht den Frieden hinter dem Leiden. So möchte die Predigt ermutigen, in der Anfechtung am „Dennoch“ des Glaubens festzuhalten.

Liebe Gemeinde,
Gott schweigt. Diesen Eindruck wird man nicht los, wenn man die entsetzlichen Kriegsbilder aus der Ukraine sieht. Auch heute Morgen heulen dort Sirenen, schlagen Raketen ein, werden Häuser in Trümmer gelegt, suchen Menschen Schutz in U-Bahnschächten und Kellern. Andere versuchen hektisch das Land zu verlassen. Unzählige Tränen werden geweint. Und Gott? Er schweigt.

Warum lässt Gott dieses Sterben zu?, fragen viele. Warum sendet er keinen Engel, der Putin in die Hände greift? Natürlich hat nicht Gott diesen Krieg verursacht. Und doch hat er ihn zugelassen. Ist Gott dann nicht zumindest indirekt verantwortlich? Gott schweigt. Das gehört zur Passion, zum „Leiden“. Heute – wie damals bei Jesus.

Hören Sie jetzt von Gottes Schweigen. Ich lese Verse aus dem 12. Kapitel des Johannesevangeliums. Jesus zieht in Jerusalem ein ohne ein einziges Wort zu sagen.

„Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: ‚Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.‘ Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.“

Liebe Gemeinde,
Gott schweigt. Jesus sitzt auf einem Esel und ist still. Um ihn herum ist alles laut, schrill und chaotisch. Die Menschenmenge schreit „Hosianna!“ Die Freunde von Lazarus preisen lautstark seine Auferweckung und den, der dies vollbrachte. Die Jünger diskutieren aufgeregt, weil sie nicht begreifen, was hier gerade geschieht. Und die Pharisäer halten mitten im Lärm eine Besprechung ab. Das alles findet gleichzeitig statt, gleichzeitig und durcheinander.
Und Jesus? Er schweigt.

Hören wir noch einmal hinein in den Lärm, der um Jesus gemacht wird. Am deutlichsten hören wir das laute Jubeln der begeisterten Menschenmenge: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ Jesus eilt der Ruf voraus, er sei der von Gott gesandte Messias. Und der kommt heute nach Jerusalem! Eine Sensation!
„Hosianna“, das ist hebräisch und bedeutet übersetzt: „Herr, hilf!“ Das ist eine Bitte: Gott, befreie uns von den Römern, die unser Land besetzt halten und uns Gewalt antun!
Und Jesus? Er schweigt. Er jubelt nicht zurück. Er bedankt sich nicht. Er findet mitten im Getümmel einen Esel, reitet darauf und hört zu.

Horcht man genauer hin, hört man im Lärm die Jünger Jesu heraus. Sie rufen nicht „Hosianna!“, sondern teilen einander ihr Unverständnis mit über das, was sie gerade erleben. Sie scheinen in der großen Menge unter sich zu sein und auch viel zu reden, weil sie nicht verstehen, was gerade passiert. Sie sind beschäftigt mit Vermutungen und Gerüchten.
Und Jesus? Er schweigt. Er klärt seine Jünger nicht auf. Er räumt nicht Missverständnisse aus. Er diskutiert nicht. Er kommentiert nicht. Er kommuniziert schweigend. Er sitzt mitten im Getümmel auf einem Esel.

Hört man ein drittes Mal in den Lärm hinein, wird noch ein besonderes Gotteslob vernehmbar, nämlich von denen, die Lazarus nun auf Schritt und Tritt in seinem neuen Leben folgen. Lazarus, ein Freund Jesu, war gestorben. Jesus hat ihn auferweckt. Die das miterlebt haben, können das jetzt nicht verschweigen, auch wenn alle anderen über anderes jubeln. Sie loben Gott in höchsten Tönen! Und Jesus? Er schweigt auch zu diesem Lobpreis. Schweigt er, weil er weiß, dass er den Tod vor sich hat?

Wenn wir im Stimmengewirr die Pharisäer hören wollen, dann müssen wir uns ganz besondere Mühe geben. Denn die Pharisäer flüstern nur. Sie wollen, dass ihre Worte nicht gehört werden, dass keiner ihre Pläne herausposaunt. Die Pharisäer jubeln nicht, sie feiern nicht mit. „Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.“ Die Pharisäer fühlen sich machtlos. Mitten im größten Rummel, wo alles in Bewegung ist, halten sie eine Sitzung ab. Sie machen sich Gedanken. Aber Jesus schweigt. Er nutzt nicht die Gunst der Stunde, um die Pharisäer zu belehren. Er verzichtet in diesem Moment der Passion auf ein Gleichnis. Auch ein Wunder bleibt aus. Jesus verschafft sich nicht Gehör. Er ist ganz Ohr.

Diese vielen Geräusche, Töne, Rufe, dieser Jubel, dieses Getuschel sind Jahre später dem Evangelisten Johannes im Ohr gewesen, als er sein Evangelium niederschrieb. Auch er hält das Schweigen Jesu nicht aus. Es macht ihm Angst. So sehr, dass er nicht einfach nachsagt, was Sacharja (9,9) gehört und aufgeschrieben hatte: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, Siehe, dein König kommt zu dir“, sondern Johannes übersetzt den alten Propheten anders. Er verwandelt die Verheißung in eine Ermutigung: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion!" Fürchte dich nicht vor dem Schweigen Gottes. Hosianna, der „Herr hilft!“ Du wirst den Frieden hinter dem Lärm erleben. Frieden in allem Leide. Darum hab‘ keine Angst!

Wir wissen, dass Jesus in den Tod reitet. Deshalb sehen wir durch den Jubel hindurch. Wir wissen, dass Jesus sich unbewaffnet in die Hand seiner Gegner begibt. In den Jubel des Volkes mischt sich für uns das Wissen um das brutale Schicksal, das auf ihn wartet. „Gott, warum lässt du das zu? Warum sendest du nicht deinen Engel, der sich den Feinden Jesu in den Weg stellt?“ – so mag mancher fragen. Aber Gott schweigt. Stille fällt in den Lärm des Festes. Die Passion, das Leiden nimmt seinen Lauf. Gewalt, Sterben, Tod. Das Leiden dauert bis heute an: Bachmut, Butscha, Charkiw, Luhansk, Antakya, Kabul, Bagdad, Aleppo.

Aber es gibt einen ruhenden Punkt, gerade im dicksten Getümmel: Jesus Christus. Er geht ins Leiden, nimmt Verlassenheit, Qual und Hohn auf sich und stirbt am Ende, um uns Menschen mit Gott zu versöhnen. O Mensch, hörst du nicht den Frieden hinter dem Lärm? Fürchte dich nicht! In aller Bedrängnis und Not ist Christus dein Friede. Er ist an deiner Seite und hilft dir, mit der quälenden Frage zu leben, warum Gott Leiden zulässt. Und zuletzt wird auch der Tod dir nichts anhaben. Christus wird dich aus dem Tod ins Leben rufen! „Hosianna! Der Herr hilft!“
Amen.

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