Septuagesimae (05. Februar 2023)
Matthäus 9, 9-13
IntentionDie Predigt konzentriert sich auf die Kernaussage der Perikope in Vers 13:„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“
Das Thema ist: „Barmherzigkeit“.
Wie geht das, wenn man barmherzig ist?
Was ist der Grund der Barmherzigkeit?
Und was ist ihr Gegenteil? Die Gerechtigkeit?
Oder gar die Selbstgerechtigkeit?
9,9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
12 Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«
Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
In einem jeden Leben, liebe Gemeinde, gibt es entscheidende Momente und schicksalhafte Augenblicke.
Es sind dies Momente und Augenblicke, in denen einem Menschen schlagartig etwas bewusst wird.
Und dies kann seinem Leben eine entscheidende Richtung,
vielleicht sogar eine ganz neue, eine ganz andere Richtung geben.
Der Augenblick, in dem man sich in seinen zukünftigen Ehepartner verliebt zum Beispiel.
Der Moment, in dem man sich für einen Beruf entscheidet.
Situationen, in denen man unerwartet Hilfe oder auch eine vernichtende Enttäuschung erlebt.
Solche Momente prägen einen Menschen. Manchmal wird einem ihre Bedeutung erst sehr viel später, nach Jahren, wirklich bewusst.
Der Evangelist Matthäus erfährt Jesu BarmherzigkeitDer Evangelist Matthäus beschreibt jenen Moment, in dem sein Leben durch einen Augenblick eine entscheidende Richtung bekommen hat, folgendermaßen:
„Ein Mensch saß am Zoll“, und damit meint er niemand anderen als sich selber, „der hieß Matthäus“.
„Und als Jesus von dort wegging, sah er ihn an.“
Jesus sah Matthäus an, und dieser Blick voller Barmherzigkeit, dieser Augenblick hat das Leben des Matthäus komplett verändert.
„Und er stand auf und folgte ihm.“
Nicht nur im allgemeinen Leben, liebe Gemeinde, gibt es solch entscheidende Momente und Augenblicke.
Auch und ganz besonders im Glaubensleben gibt es das.
„Bekehrung“ oder „Berufung“ nennt man sie, diese Momente und Augenblicke.
Es sind Glaubenserfahrungen, in denen dir bewusst wird:
Ja, hier bei Christus findest du das wahre Leben.
Christus hat mehr als alle Philosophie und alle Heilslehren.
Christus ist mehr als aller Besitz und alles Glück der Welt.
Christus hat die Barmherzigkeit und Christus ist das ewige Leben.
„Und du stehst auf und folgst ihm nach.“
Barmherzigkeitserfahrungen in der Nachfolge JesuDie Nachfolge, liebe Gemeinde, ist kein Spaziergang.
Die Nachfolge ist der oft steinige Weg durchs alltägliche Leben.
Ein Weg, der nicht frei ist von Mühen, von Anfechtung, Fehlern, ja sogar Scheitern und Versagen.
Auch Matthäus hat das erfahren.
Er wurde zum Jünger, er war Jesus jeden Tag nahe und hörte seine Predigten und Gleichnisse.
Er verehrte und liebte ihn ganz sicher.
Und dennoch ließ er ihn am Karfreitag im Stich.
Dennoch versagte er und scheiterte er in jener Nacht, als Jesus gefangengenommen wurde.
Alle seine Jünger versagten, ließen ihn im Stich und flohen.
Die Entscheidung für Jesus, die Entscheidung zur Nachfolge macht nicht automatisch bessere und edlere Menschen aus uns.
Auch die Jünger werden noch, als sie längst bei Jesus waren und fest zu ihm gehörten, als „unverständig, halbherzig und kleingläubig“ bezeichnet.
Judas wird zum Verräter.
Petrus ist ein Mann, der bei wichtigen Entscheidungen hin und her schwankt und Jesus zuletzt verleugnet.
Thomas ist skeptisch, und selbst dem Auferstandenen gegenüber misstrauisch.
Simon neigt zur Gewalt und zieht im Garten Gethsemane das Schwert.
Jakobus, der Bruder Jesu, hält ihn für verrückt und schließt sich erst nach dem Tod Jesu den Jüngern an.
Und auch der Apostel Paulus wird als Mensch mit seinen Schwächen und Fehlern beschrieben.
Aber, und das ist das Entscheidende:
Sie haben Barmherzigkeit erfahren.
Sie haben erfahren, dass Jesus sie annahm mit all ihren Schwächen und Fehlern.
Und diese Annahme hat sie verändert, immer wieder, immer wieder neu.
Wenn Jesus sie ansah, sah er ihre Schwächen und Fehler und sie wussten, dass er sie sah, und sie wussten, dass er sie barmherzig ansah.
Gerade das aber bewahrte sie vor der Selbstgerechtigkeit und machte sie ihrerseits fähig und bereit zur Barmherzigkeit.
Ein Mensch, der seine Schwächen und Fehler offen vor Jesus bekennt, wird gerecht und gut durch die Barmherzigkeit.
Er wird nicht durch sich selbst gerecht und gut.
Er wird nicht „selbst-gerecht“, sondern er wird seinerseits barmherzig.
Das ist der Unterschied zwischen den Schriftgelehrten und dem Zöllner.
Die Schriftgelehrten sind sich selbst gerecht. Sie brauchten die Barmherzigkeit nicht.
Der Zöllner ist sich selbst ein Sünder.
Er wird durch die Barmherzigkeit gerecht.
Die Frage ist: Wo steckt der Schriftgelehrte und wo steckt der Zöllner in uns?
Wo sind wir selbstgerecht und wo wissen wir um unsere Schwächen und Fehler?
Die heilsame Wirkung der Arznei „Barmherzigkeit“„Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, sagt Jesus.
Und ich sage: Wir alle bedürfen dieses Arztes, denn in irgendeinem Spital ist jeder und jede von uns krank.
Die Arznei der Barmherzigkeit Gottes haben wir wohl alle nötig.
Sie heilt unsere Seele und unser Gewissen.
Sie heilt aber auch unser Herz.
Die Barmherzigkeit wirkt so, dass sie unser Herz barmherzig macht.
Das heißt: Die eigenen Fehler und Schwächen und vor allem die Fehler und Schwächen der anderen werden in meinem Herzen nicht hart und gnadenlos ver-urteilt, sondern eben: barmherzig be-urteilt.
Die Barmherzigkeit sagt nicht zu allem Ja und Amen.
Sie will, dass die Menschen sich ändern.
Aber sie ändert sie nicht mit Zwang und Härte, sondern mit Liebe und Güte.
Jesus begegnet uns nicht hartherzig, sondern warmherzig,
nicht fordernd sondern einladend,
nicht verurteilend, sondern barmherzig beurteilend.
Wenn wir den Ruf und die Einladung Jesu zu einem Leben mit ihm hören und annehmen, gehen uns die Herzen auf für die Barmherzigkeit Gottes.
Und wir können ihre heilende Kraft in uns hineinlassen und sie auch wieder ausströmen lassen.
Und nun überlege ich mir:
Was alles könnte unter uns anders werden, wenn wir aus Gottes Kraft barmherziger, geduldiger, verstehender, freundlicher miteinander umgingen, in der Ehe, zwischen den Generationen, zwischen den Mietparteien im Haus, zwischen Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, zwischen Nachbarn und in der Verwandtschaft?
So manches harte Eis der Selbstgerechtigkeit könnte schmelzen.
Und mancher Streit käme gar nicht erst auf.
Und mancher harte und strenge Mensch würde eine heilsame Überraschung erfahren.
Und so mancher ängstliche und unsichere Mensch würde eine frohe Erfahrung machen.
Er würde Momente und Augenblicke erleben, die ihn entscheidend prägen, die ihm den Wert der Liebe, des Glaubens und eben: der Barmherzigkeit ein Leben lang deutlich und bewusst machen.
Ich habe zum Schluss ein Lied für Sie, das genau von so einer frohen Erfahrung der Barmherzigkeit und der Liebe handelt.
Es stammt von dem Liedermacher Reinhard Mey, und wir werden es gleich zusammen anhören.
Das Lied heißt: „Der Zeugnistag“.
Es handelt von einem Jungen, und Sie werden schon merken, welch entscheidende Erfahrung da von diesem Jungen gemacht wird:
(Das Lied ist abrufbar unter: Reinhard Mey - Zeugnistag - YouTube und sollte als Lied vorgespielt, im besten Fall vorgesungen werden. Sonst müsste diese Passage entfallen.)
Reinhard Mey hat für mich genau erfasst, was Jesus Christus gemeint hat, als er sagte:
„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.
Ich will keine Opfer der Strafe und Vergeltung.
Ich will Barmherzigkeit und Liebe.
Ich bin gekommen, die Schwachen und die Sünder zu rufen
und nicht die Selbstgerechten.“
Amen.
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