Erntedank (02. Oktober 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer Julian Scharpf, Fellbach [Julian.Scharpf@elkw.de ]

5. Mose 8,7–18

IntentionDie Aussicht auf eine Ernte wie auch das Bewusstsein ihrer Gefährdung setzen von Gott geschenkte Kräfte in uns frei. Allen tiefgreifenden und berechtigten Sorgen zum Trotz gibt es selbst am Erntedankfest 2022 eine begründbare Hoffnung, dass wir Menschen durch Gottes Hilfe mit den Veränderungen der Natur zurechtkommen können.

Liebe Gemeinde,
die Blicke der Israelitinnen und Israeliten vor dem Fluss Jordan ruhen auf ihrem Anführer Mose.
Er steht vor ihnen und sieht in die Gesichter der Menschen, mit denen er so vieles erlebt hat.
Mit der Hilfe Gottes wurden sie gemeinsam von der ägyptischen Knechtschaft befreit, sie sind durch die Wüste gezogen und stehen vor den Toren des Gelobten Landes.
Sie sind frei, aber gezeichnet von ihrem schweren Weg.
Jetzt ist die von Gott versprochene gute Zukunft endlich zum Greifen nah.
Nach entbehrungsreichen Jahrzehnten trennt sie nur noch der Jordan vom guten Leben.
Sehnsüchtig schauen sie nach vorn.
Da ergreift Mose das Wort und sagt zu ihnen (5. Mose 8,7–10):

„Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darin Bäche und Quellen sind und Wasser in der Tiefe, die aus den Bergen und in den Auen fließen,
ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen, ein Land, darin es Ölbäume und Honig gibt,
ein Land, wo du Brot genug zu essen hast, wo dir nichts mangelt, ein Land, in dessen Steinen Eisen ist, wo du Kupfererz aus den Bergen haust.
Und wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, deinen Gott, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat.“

Sehnsucht nach ZukunftDie Rede des Mose erinnert mich an ein Zitat, das dem Autor des Kleinen Prinzen, Antoine de Saint-Exupéry, zugeschrieben wird:
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Mose lehrt die Israeliten Sehnsucht nach dem Gelobten Land und beschreibt es als ein fruchtbares Land; als ein Land, das keinen Mangel kennt. Mose zeichnet das Bild dieses Landes in einer Fülle, mit der es selbst unsere reich gedeckten Erntedankaltäre kaum aufnehmen können.
Mose lehrt die Menschen Sehnsucht nach der Zukunft.
Zugleich will Mose sein Volk davor bewahren, dass es angesichts all der Fülle im Gelobten Land überheblich wird und Gott vergisst, der sie in schlechten Zeiten bewahrt hat. Mose sagt (5. Mose 8,11–18):

„So hüte dich nun davor, den Herrn, deinen Gott, zu vergessen, sodass du seine Gebote und seine Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst.
Wenn du nun gegessen hast und satt bist und schöne Häuser erbaust und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt,
dann hüte dich, dass dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergisst, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft,
und dich geleitet hat durch die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war, und ließ dir Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen
und speiste dich mit Manna in der Wüste, von dem deine Väter nichts gewusst haben, auf dass er dich demütigte und versuchte, damit er dir hernach wohltäte.
Du könntest sonst sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen.
Sondern gedenke an den Herrn, deinen Gott; denn er ist’s, der dir Kräfte gibt, Reichtum zu gewinnen, auf dass er hielte seinen Bund, den er deinen Vätern geschworen hat, so wie es heute ist.“

Wüstenzeiten damals und heuteMose blickt auf die schlechten Zeiten zurück und erinnert die Menschen an die große und furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser waren.
Mit diesem Bild im Hinterkopf schaue ich auf diesen Sommer 2022 mit seiner Dürre und sehe, wie manche Weingärtner und Landwirte, Männer und Frauen, mit dem Bewässern kaum nachkamen.
Ich sehe vertrocknete Wiesen und Felder. Verzweifelte Försterinnen, denen die Tränen beim Anblick der trockenen Wälder kommen. Ich bin schockiert davon, dass wir in Deutschland neben all den anderen Krisen auch noch Wasserknappheit haben.
Und ich frage mich, ob wir heute in Europa in genau die entgegengesetzte Richtung der Israeliten damals schauen.
Schauen die Israeliten auf die leere Wüste hinter sich zurück und erblicken das Gelobte Land, während wir auf Jahrzehnte des Wohlstands zurückschauen und in eine wüste und leere Zukunft schauen?
Ich hoffe trotz allem: nein.

Trotz alledem: Hoffnung und KraftMeine Hoffnung kommt durch die Worte, die Mose den Israeliten und uns mitgibt:
„Hüte dich, dass dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergisst, […] Du könntest sonst sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir diesen Reichtum gewonnen. Sondern gedenke an den Herrn, deinen Gott; denn er ist’s, der dir Kräfte gibt.“

Ich kann diese Worte von der Kraft Gottes berechtigterweise als eine Ermahnung an mich verstehen:
Sei nicht so stolz auf das, was du hast. Schließlich kommt nichts allein durch dich. Selbst dein Ehrgeiz und deine Ideen sind nichts, was du dir selbst verschaffst, sondern sie sind von Gott geschenkt. Erinnere dich daran, dass du nicht alles in der Hand hast uns aus eigener Kraft schaffst.
Das ist eine gesunde Kränkung, mit der uns Gott vor Hochmut bewahrt.

Ich kann die Worte Mose von der Kraft Gottes auch als eine Ermutigung lesen:
Gott gibt uns immer wieder aufs Neue Kraft, um mit den Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen. Gott bleibt seinem Bund mit den Menschen treu, er nimmt seine Verpflichtung ernst. Er hat die Israeliten damals nicht im Stich gelassen, und er wird auch uns nicht allein lassen.
Selbst in der leeren und öden Wüste hat Gott den Israeliten in scheinbar ausweglosen Situationen immer wieder geholfen. Er ließ Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen, als sie Durst hatten und speiste sie mit Himmelsbrot, als sie hungerten.
So wie Mose die Israeliten beim Blick zurück erkennen lässt, wie sie Bewahrung erfahren haben, gibt mir dies Hoffnung für den Ausblick in die Zukunft.

Das Jahr ohne Sommer 1816Diese Hoffnung kommt auch aus der Geschichte unseres eigenen Landes.
Wenn wir heute hier Erntedank feiern, geht in Stuttgart langsam das Landwirtschaftliche Hauptfest zu Ende und viele feiern auf dem Cannstatter Volksfest.
Das Volksfest ist genauso wie die Landesbank Baden-Württemberg und die Universität Hohenheim eine derjenigen Institutionen, deren Vorläufer als Antwort auf eine Zeitenwende vor 200 Jahren gegründet wurden.
Das Jahr 1816 ging als das Jahr ohne Sommer in die Geschichtsbücher ein.
Infolge eines Vulkanausbruchs in Indonesien veränderte sich das Klima in extremer Weise. Es kam zu Missernten und Hungersnöten. Viele Menschen fragten verzweifelt, warum Gott ihnen das antut. Tausende flüchteten vor Hunger aus ihrer Heimat. Wer heute von Migrantinnen und Migranten in abwertender Weise als „Wirtschaftsflüchtlingen“ spricht, sollte vielleicht einmal einen Blick in die eigene Familiengeschichte wagen.
Als Reaktion auf die Hungersnot gründeten Württembergs König Wilhelm I. und seine sozial engagierte Ehefrau Katharina die Vorläuferinstitutionen des Volksfests als Leistungsschau, die Württembergische Landessparkasse und die Landwirtschaftliche Musteranstalt in Hohenheim.
Das zeigt, dass eine Krise Kräfte in uns Menschen freilegen kann, unsere Lebensweise und die Art des Wirtschaftens grundsätzlich zu überdenken und zu ändern.
Das Jahr 1816 und die folgenden Jahre waren eine Zwischenzeit, auf die für viele Menschen Verbesserungen folgten.

Die begründbare Hoffnung auf VeränderungenWir leben heute auch im Bewusstsein, in einer Zwischenzeit zu sein.
Im Blick zurück auf das Jahr 1816 und seine Folgen erkennen wir, dass als Antwort auf die Krise soziale Verbesserungen angestrebt wurden und die Landwirtschaft sich stark veränderte.
Unsere Antworten auf die Krisen unserer Zeit werden andere sein als vor 200 Jahren, aber sie werden auch tiefgreifend sein.
Vielleicht werden schon unsere Erntedankaltäre in zehn Jahren ein Zeugnis dieser Veränderungen sein, weil sie mit anderen Lebensmitteln geschmückt sind.
Dabei rechne ich fest damit, dass Gott uns auch in Zukunft Grund zum Danken und für Erntedankfeste geben wird.
Vielleicht schauen wir nicht in ein Gelobtes Land; vielleicht dauert es auch noch, bis wir wieder Sehnsucht nach Zukunft empfinden.
Doch ich bin mir sicher, dass Gott wieder Wasser aus dem harten Felsen hervorgehen lassen wird und uns mit Himmelsbrot versorgt.
Dass er uns frische Ideen und die Kraft zu notwendigen Veränderungen gibt.
Denn: Gott „ist’s, der uns die Kräfte dazu gibt.“ Amen.

Literaturangaben:
Otto, Eckart: Deuteronomium 1–11, Zeiter Teilband: 4,44-11-32 (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2012, S. 905–923; Volkmann, Ingmar: Massenexodus aus dem Armenhaus. Das Jahr ohne Sommer 1816, Stuttgarter Zeitung vom 27.07.2016.
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.das-jahr-ohne-sommer-1816-massenexodus-aus-dem-armenhaus.0771767e-12c5-43a4-bae1-749473685cfb.html (zuletzt abgerufen am 31.08.2022)



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