10. Sonntag nach Trinitatis (21. August 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer Jochen Maurer, Stuttgart [Jochen.maurer@elkw.de]

Matthäus 5,17-20

IntentionDie Treue des Juden Jesus zur Tora lockt uns in die anbrechende „Herrschaft des Himmels“, in das Reich Gottes. Jesu Verhältnis zur Tora hat Konsequenzen für die Frage, wer Jesus für uns heute ist und wie wir unser Verhältnis zum Judentum in unserer Zeit – neu – bestimmen.

Bergpredigt und Lehre auf dem Weg: Jesus und die Liebe zum Detail der Tora„Das Regierungsprogramm des Himmelreichs“ nennt ein Ausleger die Bergpredigt.
Die drei Kapitel in Matthäus 5-7 sind einer der großen Texte unserer Bibel und unseres Glaubens.
Wer ist der, der da spricht? Wer ist Jesus, und wie ist seine Stellung zur Tora des Mose?
Die Bergpredigt Jesu ist die erste von fünf Reden Jesu auf dem Weg. In ähnlicher Weise werden Mose fünf Bücher der Lehre zugeschrieben und David fünf Sammlungen der Psalmen. In der Bergpredigt begegnet uns Jesus als Lehrer, Poet und Kenner der Seele, vor allem aber der Sehnsucht des Menschen nach Gottes Zuwendung und Nähe. In der Bergpredigt sagt Jesus (Übersetzung nach Wengst 2019):

5,17 Meint nicht, dass ich gekommen bin, die Tora und die Propheten außer Geltung zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Geltung zu setzen, sondern um sie aufzurichten.
18 Ja, amen, ich sage euch: Bis dass Himmel und Erde vergeht, vergeht kein einziges Jota und kein einziges Strichlein von der Tora, bis dass alles geschieht.
19 Wer immer also ein einziges dieser kleinsten Gebote ungültig macht und die Leute so lehrt, wird der Kleinste im Himmelreich genannt werden. Wer sie aber tut und lehrt, der wird ein Großer im Himmelreich genannt werden.
20 Ich sage euch nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht in größerem Überfluss vorhanden ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.

Liebe Gemeinde!
Wie steht die Bergpredigt, das Regierungsprogramm des Himmelreichs, zur jüdischen Tora? Jesus gibt dazu eine Grundsatzerklärung. Er gibt Rechenschaft, womit er sich befasst, woher er seine Lehre entwickelt und worauf sie gründet. Drei Punkte davon möchte ich herausgreifen. Der erste lautet:

Kein Buchstabe der Tora oder der Propheten wird vergehen – Jesus achtet das DetailAus Jesu Worten spricht eine für jüdische Gläubige selbstverständliche Liebe und Ehrfurcht gegenüber der Tora. Liebevoll und sorgfältig geben Eltern ihren Kindern die Tora weiter.
Ehrfurcht prägt die Arbeit eines Toraschreibers. Eine Torarolle hat 304 805 Buchstaben, das sind 79 976 Worte oder 5844 Verse, geschrieben in je 42 Zeilen pro Spalte. Geschrieben wird etwa ein Jahr in Handarbeit mit dem Gänsekiel auf Pergament. Nur ein Fehler – und die Torarolle ist unbrauchbar.
Ist das nicht übertrieben? Aus jüdischer Sicht nicht. Denn die Gewissenhaftigkeit der Schreiber ist die angemessene Antwort auf das Vertrauen, das Gott als Geber der Tora in den Menschen setzt. In der großen Sorgfalt spiegelt sich also eine Ehrfurcht gegenüber Gott.
Dass die Textbasis einer Torarolle auch wirklich verlässlich ist, ist die unbedingte Voraussetzung dafür, dass diejenigen, die sie lesen, diskutieren und auf ihrer Basis entscheiden, das auch auf einer fundierten Basis tun können. Insofern spiegelt sich in der großen Sorgfalt zugleich eine Ehrfurcht vor dem menschlichen Gebrauch der Tora. Die Treue zum Detail, zu jedem Strichlein, gilt der Tora im umfassenden Sinn.
Was bezeichnet das Wort Tora? Tora meint sowohl ein Einzelgebot als auch die fünf Bücher Mose oder die ganze hebräische Bibel. Mehr noch: Eigentlich ist Tora ein großes, Generationen umfassendes Gespräch. Dies umfasst Lesen, Hören, Fragen, Diskutieren und vor allem: Tun!
Jesus erteilt Nachlässigkeit und Schlampigkeit eine klare Absage. Kein Buchstabe der Tora wird vergehen, vergessen, verloren werden – weil Gott das Gegenüber dieses Gesprächs ist. Daraus ergibt sich als zweiter Punkt:

Jesus lässt keinen Zweifel: Er wird die Tora nicht außer Geltung setzen, sondern aufrichtenLassen wir uns darauf ein, dann verstehen wir: Die Tora aufrichten meint, ihr in Lehre und Leben Raum geben, andere dabei mitnehmen. Jesus ist Lehrer der Halacha. Halacha, von hebräisch halach = gehen, bedeutet Tora für jeden Tag, Weisung für den alltäglichen Lebensweg.
Bis heute setzen jüdische Lehrer und Lehrerinnen die alten Buchstaben, Worte und Verse in Beziehung zu den Fragen der Menschen ihrer Tage. Wo das geschieht, wandelt sich der Buchstabe zum lebendigen Wort Gottes, das die Existenz eines Menschen leitet.
In den Worten unseres Predigttextes sehen wir Jesus auf Schritt und Tritt den Werten, Inhalten und Formen der jüdischen Schriftkunde verpflichtet. So verstanden ist Tora ein immerwährendes Gespräch, ein Ins-Leben-Bringen der großen und kleinen Weisungen im Alltag, am Schabbat und an den Feiertagen.
„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust an der Tora des HERRN und sinnt über seiner Tora Tag und Nacht.“
Mit dieser Seligpreisung, mit diesem Lobgesang auf die Tora beginnt Psalm 1. Psalm 1 ist wie ein goldenes Tor, das allen, die eintreten wollen ein Leben aus der Quelle verspricht: ein Leben in Beziehung zu Gott, dem Schöpfer und Geber der Tora. In ähnlicher Weise beginnt auch die Bergpredigt Jesu mit Seligpreisungen.
Unser dritter Punkt ist:

Aus der Liebe zum Detail der Tora entwickelt Jesus Gerechtigkeit im ÜberflussDass die Treue zum kleinsten Gebot, Jota oder Strichlein das Große im Blick hat, zeigt Jesus in den folgenden Auslegungen wichtiger Toratexte. Jesu Toraauslegung führt beispielsweise das Gebot der Nächstenliebe konsequent weiter bis hin zum „Angesicht meiner Feinde“.
Was bessere Gerechtigkeit im konkreten Leben bedeutet, darüber kommen verschiedene Ansichten und Verständnisse der Tora zum Streit – um des Himmelreichs willen. Jesus hat andere Ansichten als viele Pharisäer und Schriftgelehrte. Aber es gab auch Pharisäer, die Jesu Meinung teilten. Tatsächlich haben einige Pharisäer und Jesus manche Ansichten miteinander geteilt.
Die pauschale Abwertung der Pharisäer, die uns in den Ohren klingt, ist einer späteren Zeit geschuldet. Sie hat ihre Ursprünge in Konflikten, die der Evangelist Matthäus mit Vertretern der jüdischen Gruppen nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels austrug. Christen der folgenden Jahrhunderte haben dies weiter entwickelt und Jesus systematisch aus seiner jüdischen Welt gelöst und nach ihren Vorstellungen christianisiert.
In unserem Predigttext zeigt Jesus seine Verwurzelung in der Tora. Jesus lebt mit und in der Tora, verstanden als fortdauerndes Gespräch zwischen Gott und Israel.

Wer ist der? Jesus zwischen Juden und ChristenJesus war von Geburt an Jude und blieb dies bis zu seinem Tod. Obwohl dies längst wissenschaftlicher Konsens ist, ist es für manche schwer zu akzeptieren. Dazu eine kleine Begebenheit:
Der frühere Rabbiner von Bern, Dr. Eugen Messinger, erzählt von einer Synagogenführung mit jugendlichen Schülerinnen und Schülern. Eben hatte er – wie immer – darauf hingewiesen, dass Jesus Jude war. Einer Schülerin gab das sichtlich zu denken, bis sich ihr Gesicht aufhellte: „Aber, nicht wahr, Herr Rabbiner, jetzt ist er’s nicht mehr.“
In dieser unbefangenen, aber entschiedenen Abwehr des Judeseins Jesu spiegelt sich, wie die werdende Kirche ihr Wesen bestimmte und über Jahrhunderte hin ausbaute. Kein Schabbat mehr, sondern Sonntag. Anstelle der Beschneidung die Taufe; keine Speisegebote mehr; nicht mehr die Schrift aus Mose und den Propheten – sondern ein Altes Testament; die Tora wird zum Gesetz; nicht mehr Feste Israels wie Pessach, Wochen- und Laubhüttenfest, sondern Weihnachten, Ostern und Pfingsten.
Solche Änderungen sind kein Verhängnis, sondern eher eine Entwicklung, die in der Sache selbst liegt. Denn sie trägt der Bedeutung der Person Jesu und der Ausrichtung der Verkündigung auf Menschen aus den Völkern Rechnung. Durch die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. wurde diese Entwicklung beschleunigt.
Verheerend aber war, dass Christen in der Folge einen Hochmut gegenüber Juden kultivierten und die äußerst wirkmächtige Lehre von der Verachtung des Judentums formulierten. Dieser Verrat am eigenen Ursprung führte zur Behauptung, die Erwählung Israels sei auf die Kirche übergegangen. Eine jüdische Weigerung, Jesus als den Christus, hebräisch Messias, auf deutsch: als den Gesalbten Gottes, anzuerkennen, wurde schließlich als wider-christlich, als gegen Christus, gegen das Evangelium und gegen die Kirche gerichtet verstanden. Daraus entwickelte sich dann auch Judenhass.
Was sich über 1700 Jahre lang in einer christlichen Sicht auf Juden zusammenzog, lässt sich nicht so einfach ausräumen. Wir spüren das selbst, wenn wir das Judesein Jesu, seiner ersten Anhängerinnen und Anhänger und den jüdischen Charakter eines Großteils unseres Neuen Testamentes nur widerstrebend anerkennen.
Vor kurzem ist ein Buch erschienen mit dem Titel „Das Neue Testament jüdisch erklärt“. Es ist ein Angebot, judenfeindliche Entwicklungen kritisch zu revidieren. In diesem Buch versuchen jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Jesus, die Urgemeinde und die Mehrheit der Schriften des Neuen Testaments als Teil der vielfältigen Welt jüdischen Denkens, Lehrens und Glaubens der Antike zu begreifen. Juden erkennen Jesus darin als Teil ihrer Verwandtschaft, obwohl er gegen seinen jüdischen Ursprung in Stellung gebracht wurde.

Jesus, wer bist Du?„Jesus, wer bist Du?“ So fragen wir als Christinnen und Christen im Jahr 2022, wenn wir auf unseren Predigttext hören; wenn wir zu verstehen beginnen, wie vertraut und innig Jesus als Lehrer der Tora in diesem Generationengespräch zuhause ist und wie jüdisch uns seine Gestalt in seinen Worten entgegentritt. Diese Frage betrifft den Kern unseres Christseins.
Jesus ist viel jüdischer als wir das gewohnt sind zu begreifen. Diese Einsicht hat Konsequenzen im Blick darauf, wie wir unseren Glauben leben und wie wir unser Verhältnis zu Juden und ihrem Leben mit und aus der Tora Gottes bestimmen.
Welche Folgen hat es, wenn wir Jesus neu und anders kennenlernen? Vielleicht steht am Anfang das Staunen.
Anstatt uns von Juden zu distanzieren, setzen wir das Christliche unseres Glaubens und Lebens in Beziehung zu seinen jüdischen Ursprüngen. Dabei verstehen wir uns weiterhin als Jüngerinnen und Jünger Jesu aus den Völkern.
Jesus in seinem Volk besser kennenzulernen, lässt uns auch fragen: Was hieß damals und was heißt heute, als Jude zu leben? Und was bedeutet dies für unser Christsein? Solche Fragen werden uns weiter begleiten.
Für heute haben wir gesehen: Die Treue des Juden Jesus zur Tora lockt uns in die anbrechende Herrschaft des Himmels– und damit zum Gott Israels, dem Vater Jesu Christi und Schöpfer dieser Welt. Amen.



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