Pfingstsonntag (23. Mai 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Ulrich Wildermuth, Balingen [ulrich@wildermuth.de]

1. Mose 11, 1-9

IntentionDie Geschichten der Urgeschichte zeigen, wie unsere Welt geworden ist, wie sie ist. Und Pfingsten zeigt, wie sie anders werden kann. Diesen Zusammenhang soll die Predigt aufdecken.

Unser heutiges Predigtwort ist gewissermaßen die Negativfolie, der dunkle Hintergrund zur Pfingstgeschichte und steht im Alten Testament.
Es ist die Erzählung vom Turmbau zu Babel.

„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.
Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von Dorset über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“

„Urgeschichte“ nennt man die ersten elf Kapitel in der Bibel.
Wir dürfen sie nicht lesen eine Anhäufung von Fakten, erst recht nicht von Fakten aus einer längst verflossenen Vergangenheit. Sondern sie enthält Geschichten, in denen sich eine Wahrheit verdichtet. Geschichten, in die man gewissermaßen hineinschlüpfen kann. Geschichten, die auch heute noch gelten.
Denn alles, was die biblische Urgeschichte erzählt, von der Schöpfung, über Paradies und Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies und den Brudermord, über die Sintflut und Noahs Arche bis hin zum Bau des Turmes und der Stadt – alle diese Erzählungen wollen letztlich eine Antwort geben auf die Frage: „Was ist der Mensch?“
Und hinter unserer Erzählung vom Bau der Stadt und des Turmes stehen außerdem noch konkretere Fragen:
Wie kam es eigentlich zu den vielen Sprachen, die es auf der Welt gibt?
Und wie kommt es, dass Menschen einander immer wieder nicht verstehen?

Menschliche HybrisUnd am Anfang steht ein gewissermaßen paradiesischer Urzustand:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.“ Ungehinderte Kommunikation. Und eine unendliche Fülle an Möglichkeiten. Riesiges Entwicklungspotenzial.
Sich im Osten, im Land Schinar, also in der Gegend von Babylon, einen Wohnort zu suchen, das ist etwas ganz Normales. Es gehört zu den Notwendigkeiten des Lebens.
Das Folgende aber geht schon ein wenig darüber hinaus. Es ist die Entdeckung der Technik. Es ist die Fähigkeit, sich die Elemente untertan zu machen. Aus Ziegelsteinen und mit Erdharz als Mörtel können die Menschen sich Baumaterial zubereiten. Und mit dieser technischen Neuerung schaffen sie sich einen Ansatzpunkt für weitergehende Ziele und ambitionierte Pläne.
„Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.“
Die Einigkeit mit dem paradiesischen Urzustand ist plötzlich wie weggeblasen. Die Menschen fühlen sich nicht mehr sicher.
Sie befürchten, zerstreut zu werden und in die Verlorenheit zu geraten.
So wollen sie sich selbst Sicherheit schaffen. Eine Stadt wäre dafür ein wehrhaftes Zeichen. Und ein Turm würde ihren Willen zum Ruhm kundtun.
So wächst mit den technischen Möglichkeiten der Wille, nun selbst für mehr Sicherheiten zu sorgen und auch im Wettlauf mit anderen die eigene Überlegenheit zu beweisen.
Dass sie damit etwas tun, was eigentlich Gottes Sache wäre, gerät nun aus dem Blick.
Der Mensch, der seine Möglichkeiten entdeckt hat, versteigt sich in Größenwahn.
Eine Geschichte – nicht aus längst verflossener Vergangenheit – sondern grundsätzlich, sich immer neu wiederholend und von bleibender Aktualität.

Nur ein Beispiel für solchen unbegrenzten Optimismus:
Am 14. April 1900 wurde die Weltausstellung in Paris eröffnet. Der französische Staatspräsident und seine Regierungsmannschaft fuhren in goldenen Kutschen durch die festlich beleuchtete Metropole.
Es wurden pathetische Reden gehalten: mit dem neuen Jahrhundert solle ein Zeitalter des Fortschritts, des Friedens und des Wohlstandes beginnen.
Die moderne Technik bedeute den Sieg über die Natur. Und alles menschliche Leben werde sich fundamental verändern. Maschinen, Elektrizität, Wissenschaft und Industrie würden fortan den Alltag der Menschen ganz neu prägen.
Symbol für diesen Optimismus war auf der Weltausstellung der neu errichtete Eiffelturm – ein unübersehbares Zeichen für die 50 Millionen Besucher aus aller Welt.

Und doch hatten sich untergründig schon all die Konflikte angebahnt, die das 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der großen Kriege werden ließen. Die Weltausstellung von Paris und der tatsächliche Verlauf der darauf folgenden Geschichte zeigen, dass die menschliche Selbstherrlichkeit auf tönernen Füßen steht.


Sprachververwirrung als FolgeFast mit Ironie berichtet unsere urgeschichtliche Erzählung von der Reaktion Gottes: So sehr überlegen ist er den Menschen in ihrem Größenwahn, dass er gewissermaßen zweimal herabfahren muss: Einmal, um das menschliche Treiben genauer zu sehen.
Und dann ganz, um einzugreifen und diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Wie klein ist doch der Mensch, der so gerne groß werden möchte!
Auffallend ist, dass Gott nun nicht ihr Werk, die Stadt und den Turm zerstört, sondern an ihrer Kommunikation ansetzt. Die Verständigung, die gemeinsame Sprache wird gestört.
Und tatsächlich geschieht nun das, was die Menschen in ihrem Streben nach Sicherheit vermeiden wollten: Sie werden zerstreut über die ganze Erde.

Als wir in der Coronakrise gestaunt haben über die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik –und als viel schneller als sonst üblich Impfstoffe entwickelt und zugelassen werden konnten – da dachten wir, nun seien alle Probleme gemeistert.
Aber dann haperte es genau an der Kommunikation. Die Verhandlungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten waren hochkompliziert und brachten unübersichtliche Ergebnisse.
Und beim Besorgen von Impfstoffen und bei der Abwicklung der Impfungen hat es im Miteinander immer wieder geholpert und gestockt.
Oft wusste die linke Hand nicht, was die rechte tut.
So sind wir hoffentlich bescheidener geworden durch diese Krise.
Wir lernen neu den Respekt vor der Natur.

Bezug zu PfingstenNun feiern wir heute das Pfingstfest. Wir danken Gott für das Geschenk seines Heiligen Geistes. Und wir erinnern uns an das Pfingstwunder vor fast 2000 Jahren, als die Jünger Jesu und alle in Jerusalem Versammelten die Ausgießung des Heiligen Geistes erfahren haben. Plötzlich waren alle Schranken der Verständigung aufgehoben. Und staunend bekannten die Menschen: „Wir hören sie in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.“

Ist damit nun alles wieder auf den Anfang, den Urzustand gesetzt? Wurde gewissermaßen der Reset-Knopf gedrückt?
So einfach ist das nicht – und zwar aus mehreren Gründen:

Alles, was sich seit und mit der Urgeschichte ereignet hat, ist nun nicht einfach ausradiert, als wäre nichts gewesen, sondern es ist aufgehoben und einbezogen in die neue Geschichte der Geistkraft Gottes.
Diese wird nicht einfach nur billig so ausgegossen, sondern das hat etwas gekostet – das Leiden und Sterben Jesu von Nazareth.
Und erst auf dem dunklen Hintergrund der menschlichen Verfehlung und des menschlichen Größenwahns, wird deutlich, wie kostbar der Heilige Geist ist. Er ist nicht nur der Geist der Verständigung, sondern auch der Geist des Lebens und der Gnade.

Der Geist ist weder machbar noch verdienbar. Er kommt von Gott. Ja, er ist Gott.
Während die Sprachverwirrung Resultat menschlicher Überheblichkeit ist,
ist das Pfingstwunder Gottes unverfügbares Handeln.
So waren die Menschen in Jerusalem damals buchstäblich „außer sich“.
Sie waren so ergriffen von Gott, dass sie gewissermaßen neben sich standen.

In der Apostelgeschichte wird diese Geistkraft geschildert mit den Bildern des Sturmwinds und des Feuers. Beides sind Formen von Energie.
Die Geistkraft Gottes ist die Energie, das machtvolle Handeln Gottes.
Aber sowohl der Sturmwind, als auch das Feuer sind ungezähmt und aller menschlichen Kontrolle und Verfügung entnommen.
Niemand hat darauf einen Anspruch. Niemand kann das manipulieren.
Gottes Geist lässt sich nicht bedienen wie eine Maschine.
Er lässt sich auch nicht einsortieren wie in ein Regal oder in das Mobiliar einer gemütlichen Stube.

SchlussVom Schweizer Pfarrer und Dichter Kurt Marti stammen die Worte:
„Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde,
vielmehr vergleicht die Schrift ihn mit dem Winde.“ (1)

Manchmal ist so eine Zimmerlinde ein wenig angestaubt.
Der Geist Gottes aber bringt frischen Wind, nicht nur in unsere Stuben, sondern auch in die Kirche und in unsere komplizierte und verworrene Welt.
So kann sich das Wunder der Verständigung ereignen.
Nicht aus unserer Vernunft noch Kraft, sondern allein aus Gottes Erbarmen.
Amen.

Anmerkung
Aus: Kurt Marti, Der Heilige Geist ist keine Zimmerlinde. 80 ausgewählte Texte mit einem Vorwort von Eberhard Jüngel, Radius, Stuttgart 2. Aufl. 2001, S.9.

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