Karfreitag (10. April 2020)
Pfarrerin Gudrun Ederer, Künzelsau [Pfarramt.Kuenzelsau-2@elkw.de]
2. Korinther 5,(14b-18)19-21
IntentionGott ergreift die Initiative, um uns zu zeigen, weder Schuld noch Sünde, auch nicht Verzweiflung und Trauer können uns von ihm trennen.
Das Kreuz – Anstoß oder Trost?Das Kreuz ist ein Zeichen. Wofür? Die einen sagen: für den Tod, die anderen sagen: für das Leben.
Die einen sagen: Es ist eine Zumutung, einen Gefolterten am Kreuz hängen zu sehen. Die anderen sagen: Dieser Anblick gibt mir Trost. Gott kennt auch mein Leiden und meine Not. Das ist wichtig, gerade in diesen Wochen, in denen das Leben still zu stehen scheint.
Der Karfreitag ist auch der „Gute Freitag“Die beiden Deutungen des Kreuzes Jesu spiegeln sich auch in den Namen für den heutigen Tag wieder: Es ist zum einen der Tag der Klage über das Leid und das Leiden. Diese Bedeutung ist uns vertraut. „Kara“ heißt „trauern, klagen“. Und zum Trauern und Klagen gibt es in diesen Wochen ja auch allen Grund. Wie viel Leid ist durch das Virus über die Menschheit gekommen! Wie viele Tote sind schon zu beklagen!
Aber nun hat der Karfreitag noch einen anderen Namen: „Guter Freitag“ nennt ihn Martin Luther und die Reformation. Auch im englischen Sprachgebrauch heißt der Karfreitag „Good Friday“, guter Freitag. Das überrascht.
Diese zwei Bedeutungen finde ich in zwei Fragen zugespitzt: „Woran sterben wir?“ fragt der Karfreitag. Und: „Wovon leben wir?“ fragt der „Gute Freitag“. Ich merke, dass beides untrennbar zusammengehört. Zwei Fragen stellt dieser Tag, und es antwortet der Karfreitag: „Wir sterben daran, dass wir uns abwenden von Gott.“ Und es antwortet der Good Friday: „Wir leben davon, dass Gott uns aufsucht und nicht aufgibt.“ Luther beschreibt es so: Wir laufen weg vor Gott, wenden uns ab von der Quelle des Lebens und „er läuft uns nach, durch alles Leiden wie durch ein Feuer“.
Der Gute Freitag betont: Gott lässt nicht ab von uns. Er überwindet alle Entfremdung und alle Trennung von Gott. Er wendet sich denen zu, die zweifeln und die verzweifeln. Denen das Alleinsein in diesen Wochen zusetzt. Die sich Sorgen machen um ihre Angehörigen. Deren Nerven blank liegen, weil sie auf einmal viel zu eng mit der Familie zusammen sind und es immer wieder zu Streit kommt. Denen wendet Gott sich zu. Er will ihnen zeigen: Ich bin euch nahe. Auch in schweren Zeiten.
Und das lässt er sich etwas kosten.
Hören Sie den Predigttext für den heutigen Tag aus 2. Korinther 5:
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
SehnsuchtLiebe Gemeinde, „lasst euch versöhnen mit Gott!“, bittet Paulus die Christen in Korinth. Er kennt deren Probleme, ihre Zerrissenheit, ihre Unsicherheit, ihr mangelndes Vertrauen. Und es geht ihm um Orientierung und Halt in schweren Zeiten Das geht nur mit Gott, sagt er. Das geht nur mit Christus.
Orientierung und Halt – damals wie heute.
Mitten ins Leben hinein trifft also diese Bitte „Lasst euch versöhnen mit Gott“.
Paulus richtet die Bitte an die ganze Welt.
Und ich spüre, diese Bitte trifft auch heute – in mein persönliches Leben und in die Ängste, die dieses Virus ausgelöst hat. Vieles in unserem Leben und in unserem Zusammenleben wird ja auf den Prüfstand gestellt. Da sind Menschen auf einmal ganz allein und müssen mit der Einsamkeit zurechtkommen. Und auf der anderen Seite sind Familien gezwungen, mehr Zeit miteinander zu verbringen als ihnen gut tut. Konflikte brechen auf.
Es gibt so viele offene Fragen, auf die wir keine Antwort wissen in diesen Tagen. Da ist diese tiefe Sehnsucht nach dem, was Leben ausmacht. Nach Gehalten sein. Nach Nähe. Was fangen wir da an mit dem Aufruf, uns zu versöhnen und uns versöhnen zu lassen?
Ein Beispiel für VersöhnungEine Geschichte hat mir Mut gemacht. Ich habe sie Mitte März in meiner Zeitung gelesen, sie blickt zurück auf den schlimmen Terroranschlag in Paris vor fünf Jahren.
Die Geschichte handelt von zwei Vätern. Der eine ist Georges, der seine Tochter Lola bei dem Terroranschlag auf den Club Bataclan verloren hat.
Nach einer Weile geht Georges wieder mit seinen Freunden zum Laufen. Sie umgeben ihn mit all der Wärme, die er braucht. Georges geht auch bald wieder arbeiten. Geht zum Psychologen. Gründet eine Vereinigung. Schweigen und Tabu sind für ihn keine Mittel, um die Trauer zu bewältigen.
Der andere Vater ist Azdyne. Er geht oft auf den Friedhof. Dort liegt Samy, sein Sohn. Ein Mörder. Samy war einer der Terroristen, die den Anschlag in Paris verübt haben.
In Adzyne ist Trauer aber da ist auch die Wut auf Samy: „Wie konnte er mir das antun? Ich habe alles für ihn getan, ihm alles gegeben!“
Und da ist die Scham und die Frage: „Wie hatte es so weit kommen können? Was habe ich in der Erziehung falsch gemacht? Hätte ich strenger sein sollen?“
Eine Sackgasse ist das, gepflastert mit Wut und Schuld, Trauer und Horror, Fragen und Zweifeln und Schweigen.
Und nun geschieht Entscheidendes: Azdyne ruft Georges an. Sie verabreden sich, Georges eher zögerlich.
Die beiden Väter treffen sich. Reden miteinander. Schreiben gemeinsam ein Buch.
Geht das? Der Vater eines Attentäters und der Vater einer Ermordeten? Steht der Hass nicht im Weg? Lolas Vater empfindet weniger Hass und Rache als Horror.
Samys Vater spürt Hass und Ekel gegenüber seinem Sohn. Und eine große Ratlosigkeit.
Die beiden Väter brauchen einander, um zu verstehen, wofür es keine Worte gibt.
Samys Vater fühlt sich schuldig. Er kann die Verantwortung nicht von sich weisen. Er überlegt, was er falsch gemacht haben könnte. Er fühlt sich verstrickt in die Schuld und will erklären und Vorurteile abbauen. Er ist erfasst von dem, was man nicht selbst verantworten kann. Dass er sich auch als Opfer fühlt, löst in Georges zunächst widersprüchliche Gefühle aus. Es bedarf der Worte, der Geschichten, um zu verstehen. Denn das ist neben der unendlichen Traurigkeit das vorherrschende Gefühl der beiden. Sie empfinden: „Es ist so absurd, was junge Menschen einander antun“.
Azdyne bittet Lolas Vater um Vergebung. Dieser sagt: „Ich kann dir nicht vergeben. Das könnte höchstens Lola, wenn sie noch leben würde. Und sie müsste Samy vergeben.“ Trotzdem: Die beiden reden miteinander. Können sich in den Arm nehmen, leiden gemeinsam und sehen gemeinsam in die Zukunft.
Versöhnung unter Menschen beginnt mit WortenLiebe Gemeinde, es ist noch kein Happy End, dass die beiden Väter zusammengekommen sind. Aber das ist Versöhnung: Sie können miteinander reden. Können sich sagen, was ihnen das Herz schwer macht. So wird es leichter.
Sie beide sagen: „Wenn wir miteinander reden können, dann können es auch andere.“ Sie wollen damit auch anderen Mut zur Versöhnung machen.
Der tödliche Kreislauf von Hass ist durchbrochen.
Das ist Versöhnung: Sprachlosigkeit wird aufgehoben. Worte werden gefunden und man kann ausdrücken, was schmerzt, man kann sagen, was man versteht und wie man fühlt. Ich glaube, das brauchen wir auch heute, wo uns so vieles bedrückt und traurig macht.
Die beiden Väter sind keine Christen. Und doch meine ich, hier ist Gottes Geist am Werk.
Er ergreift Menschen.
Er macht sie zu Botschaftern der Versöhnung, die auf Golgatha ihren Anfang genommen hat, als Jesus gestorben ist.
Die Welt braucht Versöhnung. Zu übermächtig werden sonst die Lasten von Schuld und Schulden, eigenen und fremden, von erlittenem und begangenem Unrecht. Ratlosigkeit und Verzweiflung nehmen die Luft zum Atmen und machen stumm.
Gott selbst beginnt die VersöhnungDavon leben wir: Gott kommt und gibt das Beste, was er hat: Seinen Sohn.
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber.
Versöhnung jedoch gibt es nicht umsonst. Der Preis dafür ist das Leben Christi. Jesus Christus hat gezeigt, dass Gott die Verzweifelten nicht allein lässt – auch nicht in tiefster Not. Gott ist auf der Seite derer, die leiden. In seinem Sohn leidet er selbst.
Versöhnung kostet Kraft. Selbstüberwindung. Die beiden Väter haben das gespürt. Sie haben viel eingesetzt. Der Vater von Samy hat den ersten Schritt getan und der Vater von Lola hat sich darauf eingelassen.
Es kostet Kraft, von der eigenen Schuld, aber auch von der eigenen Angst zu reden. Wie viel schließen wir oft in uns selbst ein! Und wie befreiend ist es, wenn man sich vertrauensvoll austauschen kann!
„Lasst euch versöhnen mit Gott“ – so höre ich noch den Ruf, die Bitte des Paulus.
Gott hat den ersten Schritt gemacht.
Gott geht in die Initiative.
Sein Sohn ist für alle gestorben und auferstanden. Er hat sein Leben für uns eingesetzt.
An uns ist es, uns darauf einzulassen, diese große Tat anzunehmen, Hoffnung und Zuversicht zu gewinnen. Gott lässt keinen allein. Er wendet sich uns zu. Davon leben wir bis heute. Das lässt mich staunen! Das lässt mich dankbar sein und auch gelassen. Da ist schon etwas für mich geschehen.
Versöhnt leben macht den Karfreitag zu einem „Guten Freitag“Wie es ist, versöhnt zu leben? Türen stehen offen! Gräben und Gräber werden überwunden!
Gott hat die Welt ja schon versöhnt. Christi Tod tauscht die Sünde in Gerechtigkeit, Isolation und Trennung in Gemeinschaft und Zuversicht.
Gottes großes Ja ist im Kreuz erkennbar. Wo Menschen leiden und allein und traurig sind – da ist er ihnen nah.
Was da am Kreuz geschieht, ist wie ein großes „Plus“. Das Sterben Christi verbindet: Menschen mit Menschen, Menschen mit Gott. Ich sehe die ausgebreiteten Arme Christi am Kreuz, die die ergreifen wollen, die leiden und verzweifelt sind. In der tiefsten Not sind sie gehalten. In der tiefsten Not sind sie durch Christus mit Gott verbunden.
Da ist schon etwas geschehen. Neues ist geworden. Da sind Zeichen von Gottes Liebe schon jetzt in dieser Welt, Zeichen wie die Begegnung von Georges und Azdyne. Gott gibt seine Welt nicht auf.
So ist der Karfreitag auch ein „Guter Freitag“: Wir hören das Wort der Versöhnung, wir sehen das Zeichen des Kreuzes und wissen: Gott will nicht ohne uns Menschen sein. Nichts kann uns von ihm trennen. Amen.
Die Geschichte der beiden Väter ist inspiriert vom Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nummer 11 vom 15. März 2020.
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