Erntedank (06. Oktober 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrer Christof Messerschmidt, Lorch [Christof.Messerschmidt@elkw.de]

Jesaja 58, 7-12

58,7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Intention: Wenn von Herzen geteilt wird, ändert sich die Welt.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,
10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
11 Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

IntentionWenn von Herzen geteilt wird, ändert sich die Welt.

Liebe Gemeinde!
Der Erntekorb ist leer. Keine roten Äpfel und erdige Kartoffeln. Keine süßen Trauben, kein frisches Brot, das so herrlich duftet und kein anderes Getreide. Wenn ich meinen Korb an Erntedank mit dem „fülle“, was der Prophet Jesaja rät und verheißt, ist nichts Greifbares im Erntekorb. Er stimmt kein Loblied auf Gott den Schöpfer an, von dem wir alle guten Gaben haben. Er preist nicht die Schönheit, dessen, was da wächst. Lobt nicht die Süße der Früchte und dankt auch nicht dafür, dass Gott es regnen lässt und die Sonne so scheint, dass auch aus den Trauben ein herrlicher Wein werde, der des Menschen Antlitz erfreut. Er schweigt vom Brot, das das Herz des Menschen stärkt. Der Erntekorb ist leer, weil Jesaja vom Teilen spricht.

Teilen lernenIn manchen Kindertagesstätten bringen die Kinder einmal in der Woche oder einmal im Monat Lebensmittel zum Frühstück mit. Lebensmittel, die dann untereinander getauscht werden. Alles Mitgebrachte wird von den Erziehenden und den Kindern zu einem feinen Frühstücksbüffet angerichtet, an dem sich anschließend alle bedienen dürfen. Ein richtiges Teilen ist das noch nicht. Aber es ist schon mal ein Schritt weg von „Das ist meins“ hin zu dem „Was ich habe, teile ich gerne mit dir“. Denn auch Teilen will gelernt sein. Nicht jeder in einer Kindertagesstätte oder auf dem Schulausflug oder auf der gemeinsamen Familienwanderung teilt das Pausenbrot oder den letzten Schluck Wasser gerne. „Du hättest dein Wasser besser einteilen müssen“ oder „Kann ich doch nichts dafür, wenn du dein Brot schon gegessen hast“, bekommt da mancher zu hören.

Teile ich gerne?In einer Statistik wurde folgende Umfrage ausgewertet: „Was vom Folgenden würden Sie außer mit Ihren Familienangehörigen nicht teilen?“
Genannt waren dann die Begriffe: Schrebergarten, Waschmaschine, Werkzeuge, Auto, Ferienwohnung und Computer.
Bereits 2011 wurde die Umfrage durchgeführt. Damals gaben 42 % der Befragten an, ihren Schrebergarten nicht teilen zu wollen. 2019 sieht das Ergebnis so aus, dass über 50% ihr Auto auf keinen Fall einem Menschen außerhalb der Familie anvertrauen würden. (1)
Teile ich gerne? Und wenn ja, was?

Situation des TextesJesaja spricht zu Menschen, die das Teilen auch schon wieder ein wenig vergessen haben. Sie sind heimgekehrt, aus dem Exil. Gerade erst haben sie Fuß gefasst. Sie sind noch dabei, sich wieder einzurichten und aufzubauen, was zerstört ist. Sie pflanzen, damit auch wieder geerntet werden kann. Sie suchen ihr Gottvertrauen und finden sich nach und nach ein in die neue alte Heimat. Dabei scheint ihnen ein wenig der Nächste aus dem Blick geraten zu sein. Sie scheinen vor allem um sich selbst zu kreisen. Sie sehen die Not manches anderen nicht. Oder aber sie sehen sie, lindern sie aber nicht. Dabei fordert doch Jesaja auf den ersten Blick nur Selbstverständliches:
Dem Hungrigen Brot zu gehen.
Dem Obdachlosen ein Dach über dem Kopf.
Dem Nackten Kleidung.
Selbstverständlich. Oder? Das macht man doch. Da hilft man doch gerne. +

Haben wir geteilt?Im Herbst 2019 wird in Deutschland an den Mauerfall vor dreißig Jahren erinnert. Wer schon mal in Berlin an der Mauer stand, weiß, wie irrsinnig alle Mauerbauten auf der Welt sind. Was für Tragödien sie hervorrufen und wie wenig sie von dem zum Ausdruck bringen, was Jesaja wichtig ist. Auch im Herbst 1989 hat sich bei vielen die Angst breit gemacht: „Wie wollen wir die alle satt bekommen, die jetzt über Nacht auch zu unseren Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen geworden sind?“ „Wollen wir die da überhaupt satt machen? Die haben doch nie in unsere Rentenkassen gezahlt und jetzt sollen die auch Rente und Unterstützung bekommen? Ich muss den Soli zahlen und die profitieren davon…“ So hat man damals gehört.
Im Sommer 2015 dann findet Angela Merkel: „Wir schaffen das.“ Sie vertraut darauf, dass viele der deutschen Bürgerinnen und Bürger mit offenen Armen und mehr noch mit offenem Herzen die aufnehmen, die vor den Grenzen stehen, die hungrig und ohne Obdach und im übertragenen Sinn nackt sind.
Im Grunde hat sie sich nicht getäuscht. Es wurde geteilt und geholfen und wird es immer noch im überwiegenden Maße. Aber es gibt auch andere, die ihr Brot nicht teilen, dem Obdachlosen kein Dach über dem Kopf gönnen und dem Nackten die Kleider verwehren.
Teile ich gerne? Zu welchen gehöre ich?
Jesaja zeichnet das Bild einer zerfallenden Gesellschaft. Ihr fehlt der Kitt, der alles zusammenhält. Deshalb ist es finster. Wo teilen verlernt wird, besteht die Gefahr von Hunger und Durst.

Echtes Teilen heißt entbehrenSie ist quicklebendig, wenn auch schon bald fünfundneunzig Jahre alt. Beim Geburtstagsbesuch hört der Besucher vor der Türe, wie sie mit einer Krücke zur Türe humpelt, öffnet und dann dasteht. Eine große Frau, gebeugt auf die Krücke mit wachen blauen Augen, eine weiße Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht, die sie immerzu bändigen will. „Kommen Sie herein, ich habe einen Kaffee für sie gekocht.“ Es riecht ein wenig abgestanden, zu wenig gelüftet. Im Wohnzimmer sind zwei Tassen hergerichtet und ein wenig Gebäck steht bereit. „Nehmen Sie Platz, ich schenke Ihnen mal Kaffee ein“, sagt sie und lässt sich auf das Sofa fallen, gießt einen dicken Kaffee ein und beginnt sofort zu erzählen. „Wissen Sie, ich habe nur eine Tochter. Mein Mann ist gefallen und als meine Tochter vier Wochen alt war.“ Ich nehme einen Schluck Kaffee und einen Keks, den sie mir reicht. „Und meine Tochter wäre nicht am Leben, wenn nicht einer das Brot mit mir geteilt hätte.“ Dann erzählt sie von ihrer Flucht, wie sie morgens vom Hof vertrieben wurden, zwei Stunden Zeit, um alles zu packen, dann ging es los. Sie und ihr kleine Tochter, noch ein Säugling, die Eltern und ein Pferd, das unterwegs gestorben ist. „Wir waren ein langer Treck. Wir gingen an Leichen vorbei, an Leichen von Menschen und Tieren. Und jeden Abend kam ein Mann vorbei. Er hat mir schweigend die Hälfte einer Brotscheibe gegeben. Ich sehe ihn noch vor mir stehen: Wie er das Brot irgendwo aus der Innenseite seines Mantels hervorholt, es bricht und mir die Hälfte gibt – ‚damit du dein Kind stillen kannst‘, hat er gesagt.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee und schiebt eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Nur so, nur so habe ich meine Tochter stillen können.“
Die Frau, mit der abends auf der Flucht immer ein Mann ein Stück Brot geteilt hat, sagt am Ende: „Jeden Abend, wenn der Mann kam, von dem ich nicht mal den Namen kenne, hat sich der Himmel geöffnet und der Schrecken seinen Schrecken verloren.“
Das verheißt Jesaja. Dann füllt sich mein Erntekorb mit Lebensfreude und Glück. Mit Dankbarkeit und Hoffnung für alle. Einen größeren Erntesegen kann es gar nicht geben. Amen.

Anmerkung
1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/218873/umfrage/was-die-deutschen-nie-mit-anderen-teilen-wuerden/

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