Buß- und Bettag

Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.

Die Sprüche Salomos 14, 34

»Im Bewusstsein meiner Verantwortung vor Gott trete ich dieses Amt
an. Indem ich es übernehme, stelle ich dieses Amt und unsere gemeinsame
Arbeit unter das Wort des Psalmisten: ›Gerechtigkeit erhöhet
ein Volk‹«, so sagte Theodor Heuss am 12. September 1949, kurz
nachdem er zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
gewählt worden war. Das mit der Sünde, die der Leute Verderben
ist, hat er weggelassen; er wollte wohl nicht als einer verstanden
werden, der moralisiert. Man weiß ja auch nie, was die Leute unter
dem Wort »Sünde« verstehen. Und dass der Psalmist dieses Wort gesagt
hat, stimmt auch nicht. Es steht in den Sprüchen Salomos, aber
das ist unwesentlich. Wesentlich ist, dass der erste Bundespräsident
der eben entstandenen Bundesrepublik in der »Verantwortung vor
Gott« sein Amt angetreten und dass er daran erinnert hat, dass Gerechtigkeit
ein Volk erhöhe.
Jeder der Anwesenden hat mitgehört, dass Ungerechtigkeit ein Volk
erniedrigt. Keinem musste man 1949 das lang erklären. Die scheußlichen
Ungerechtigkeiten des Dritten Reiches wurden immer mehr an
das Tageslicht befördert: die ungerechten Todesurteile, die massenhaft
gefällt und vollstreckt worden waren, die unerhörte Behandlung der
Häftlinge in den Konzentrationslagern, der nicht fassbare Massenmord
an den Juden, deren systematische Entehrung und Ausrottung. Dabei
die Pervertierung jeder herkömmlichen Moral in eine völkische Nützlichkeitsmoral,
die Verachtung östlicher Völker, als bestünden sie aus
»Untermenschen«, der Weltkrieg mit seinen fünfzig Millionen Toten.
Und nun – wen konnte das wundern? – die Folge, dass in der Völkergemeinschaft
das deutsche Volk die Wirkung seiner Taten zu tragen
hatte: Vertreibung und Flucht eines großen Teiles der Deutschen, die
Teilung Deutschlands, Erniedrigung und Ausschluss aus Europa und
aus der Gemeinschaft zivilisierter Völker. Niemand musste interpretieren,
wie wahr es ist, dass Ungerechtigkeit ein Volk erniedrigt.
Sein Dienstbeginn, so wollte es der neue Bundespräsident, sollte
im Zeichen der Hoffnung und des Neubeginns stehen. So wählte er
die positive Formulierung, wie sie in Sprüche 14,34 steht: »Gerechtigkeit
erhöht ein Volk.«
Das Wort »Gerechtigkeit« schillert, je nach dem, wer es beleuchtet.
Gerecht will so ziemlich jeder Staat sein. Die Römer lebten in der Ideologie,
was sie über den Erdkreis verbreiten würden, sei nicht nur das
römische Recht, sondern das Recht schlechthin. Jedes Volk, dem diese
Segnung zuteil werde, könne sich für diese freundliche Fügung nur bedanken.
Die paar tausend Kreuzigungen, die dann im Namen dieses
Rechts in einem Land pro Jahr vollzogen würden, müsse jeder redlich
Denkende billigen. Das sei eben der Preis für das große Geschenk.
Adolf Hitler war überzeugt, dass seine Maßnahmen, auch die den
Gegnern des Regimes gegenüber, auch die gegen die Juden und gegen
die Feindvölker, gerecht seien. Gerecht sei auch die »Aktion Gnadentod«;
für geistig behinderte Menschen sei es doch eine Gnade, wenn
sie bei Zeiten sterben dürften, und dem Volk erspare es große Kosten.
Das Wort »hart aber gerecht« war damals in vieler Munde. Das Eingangstor
des Konzentrationslagers Buchenwald »zierten« in schmiedeeisernen
Worten »Jedem das Seine«.
Was haben wir Christen zum Begriff »Gerechtigkeit« beizutragen?
Wir bringen vieles vor, was heute auch ein Mensch, der nicht oder nicht
im christlichen Sinn an Gott glaubt, mit uns bejaht: dass alle Menschen
vor dem Gesetz in dem Sinn gleich behandelt werden müssen, dass sie
für gleiche Vergehen die gleiche Strafe bekommen. Es ist ungerecht,
wenn ein Prominenter von einem Gericht bevorzugt wird vor einem
Menschen, der weder Geld noch Ansehen noch Presseinteresse hat. Der
Ärger, der gerade in letzter Zeit mehrfach in der amerikanischen Öffentlichkeit
entstand, weil Prominente durch unbegründete Begnadigungen
vor anderen bevorzugt wurden, zeigt, dass demokratisch erzogene Völker
da erfreulicherweise keinen Spaß verstehen. Wir sind uns mit Nichtchristen
auch darin einig, dass ein Mensch, der sich keinen Anwalt leisten
kann, wenn er vor Gericht angeklagt wird, einen Pflichtverteidiger
bekommen muss. Wir sind uns einig in der Auffassung, dass ein Arbeiter
seines Lohnes wert ist (Lk 10,7) und dass Ausbeutung der Arbeitskraft
von Menschen ein Unrecht ist. Wo der gerechte Lohn aufhört und die
Ausbeutung beginnt, das gibt dann immer noch viel Zündstoff.
Und es ist längst fällig, auch einmal über Maximallöhne zu reden. Denn
was sich in dieser Hinsicht in den Spitzenetagen der Wirtschaft abspielt,
das kann nur mit dem Wort »Ausbeutung« treffend bezeichnet werden.
Es erniedrigt das Ansehen der Wirtschaft und schwächt das Vertrauen
der Arbeitenden in die Führung ihrer Betriebe.
Wir sind uns mit Nichtchristen darin einig, dass es eine Schande für
ein Volk ist, wenn sein Staat Menschen, die sich nicht selbst durch ihre
Arbeit ernähren können, alte, kranke, behinderte Menschen, verhungern
oder ohne Grundversorgung im Krankheitsfall zugrunde gehen
ließe. Zu einer gewissen Grundversorgung ist der Staat auch Menschen
gegenüber verpflichtet, die arbeiten können, die aber keine Arbeitsstelle
finden. Mit vielen Nichtchristen sind wir uns darin einig, dass Reichtum
zur Hilfe für Mittellose verpflichtet. Wir sind uns mit Nichtchristen
einig darüber, dass der Besitz des Einzelnen vor Raub und Diebstahl
ebenso geschützt werden muss wie seine körperliche Unversehrtheit vor
Verletzung. Wir sind uns darin auch einig, dass der Ruf eines Menschen,
seine Ehre, nicht mit lügnerischen Verleumdungen oder obszönen
Unverschämtheiten angetastet werden darf. Noch vieles mehr wäre
aufzuzählen, das uns in der Grundvorstellung betreffend die Gerechtigkeit
mit Menschen, die keine Christen sind, verbindet.
Es wäre dann zu fragen, welche der uns verbindenden Vorstellungen
von Gerechtigkeit mehr christliche und welche mehr humanistische
Wurzeln hat. Christentum und Humanismus haben zusammengewirkt
in der Ausbildung eines gewissen Grundkonsenses in Sachen
Gerechtigkeit, der heute in Deutschland und im Ganzen auch in Europa
gilt. Dass die EU nicht ganz selbstverständlich diese Wurzeln in
ihrer Verfassung nennt, ist mehr als nur ein Geburtsfehler des neuen
Europa. Ich kann dieses Verleugnen der eigenen Wurzeln nur als Ausdruck
neurotischer Gestörtheit verstehen. Ein gesunder Organismus
steht ganz selbstverständlich zu seinen Wurzeln.
Was haben wir Christen nun besonders zum Verständnis des Wortes
»Gerechtigkeit« beizutragen? Von der Bibel her können wir nie genug
daran erinnern, dass Gerechtigkeit ein Beziehungsbegriff ist. Einem
Menschen gerecht werden heißt: Ich gebe mir Mühe, ihn in
seinem Gewordensein und Handeln aus dem heraus zu verstehen, was
er erlitten hat und was er gegenwärtig durchmacht. Vollends ein Strafrichter,
wenn er im biblischen Sinn der Gerechtigkeit dienen will, wird
sich sehr bemühen, den Angeklagten als Person wahrzunehmen und
zu verstehen, wie er zu der Tat kam, wegen der er nun vor Gericht
steht. Das bedeutet ja wirklich nicht, dass der Richter grundsätzlich
Gnade vor Recht ergehen lassen muss, weil ihm der Angeklagte leid
tut. Aber sowohl das Strafmaß als die Art der Strafe werden dadurch
mitbedingt sein, was den Angeklagten zu seiner Tat getrieben hat. Es
wird neben dem Motiv der Abschreckung potentieller anderer Täter
besonders das Motiv der Resozialisierung, der Hilfe zum gemeinschaftsdienlichen
Weiterleben, bei der Behandlung des »Falles« ausschlaggebend
sein. Der oft gehörten Auffassung, die Sühne für eine Tat
sei das eigentlich christliche Motiv der Strafverfolgung, sollten wir Christen
widersprechen. Jesus Christus hat die Strafe getragen (Jes 53,5), er
hat sie gesühnt. Das sollte auch im Gerichtssaal – vollends wenn ein
Kruzifixus in ihm an der Wand hängt – nicht vergessen werden.
Auch sollten wir, so gut wir es können, zwischen einem Menschen
und seiner Tat unterscheiden, ihn nicht bis zum Lebensende durch
seine Untat charakterisiert sein lassen: Ein Betrüger ist nicht ein Betrüger,
sondern ein Mensch, der unter anderem einen Betrug begangen
hat. Ein Mörder ist nicht bis zu seinem Lebensende ein Mörder,
sondern ein Mensch, der unter anderem einen Mord begangen hat
und der darum für seine Tat büßen muss oder büßen musste.
Wie wichtig die Unterscheidung zwischen einem Täter und seiner
Tat für dessen Gesundung und für sein Weiterleben sein kann, das habe
ich vor vierzig Jahren an einem lieben Hausgenossen erlebt. Meine alten
Eltern hatten, nachdem mein Bruder mit 25 Jahren an einer Hepathitis
gestorben war, in dessen Zimmer mitten in ihrer kleinen Ruhestandwohnung
einen Strafentlassenen aufgenommen. Herr B. war etwa 40
Jahre alt und hatte die letzten zwanzig Jahre mehr oder weniger in Gefängnissen
verbracht, die letzten fünf Jahre wegen Totschlags. Der zum
Jähzorn Neigende hatte den Liebhaber seiner Freundin, als er die beiden
in flagranti überrascht hatte, mit einem Stuhl totgeschlagen. Wie wird
man einem Menschen gerecht, der diese Vergangenheit mit sich herumträgt?
Nicht damit, dass man in ihm den Totschläger B. sieht und ihn
entsprechend isoliert, sondern so, dass man den Menschen B. von seiner
Tat unterscheidet und trennt und ihm Vertrauen schenkt. Meine alten
Eltern waren furchtlos genug, das zu tun. Das Zusammenleben zwischen
ihm und ihnen war keineswegs spannungslos. Zu verschieden waren die
Welten, aus denen sie kamen. Aber sie haben ihm Vertrauen geschenkt
auch in den fünf Wochen, in denen sie auf Europareise waren und er die
Wohnung für sich allein hatte. Und das Scheckbuch, die Banksachen
etc. wurden nicht ängstlich weggeschlossen. Für den Tag ihrer Rückkehr
hatte er einen Kuchen gebacken. Doch leider kamen sie ein paar Tage
später, so dass er ihn allein aufessen musste. Indem sie zu ihm Vertrauen
riskiert haben, haben sie ihm – so weit ich sehe, mit Erfolg – zu einem
wirklichen Neuanfang geholfen. Und mir haben sie damit gezeigt, was es
heißt, einem Menschen gerecht zu werden. So stelle ich mir das vor, was
die Bibel »Gerechtigkeit« nennt.
Gerechtigkeit Menschen gegenüber bedeutet immer sich bemühen,
sie zu verstehen, jeden mit seiner Vergangenheit und mit seiner
speziellen Gefährdung. Sünde, dieses Wort sollten wir ganz wörtlich
von dem Wort »Sund, Absonderung« her verstehen. Wenn wir uns
vor Menschen, die uns brauchen würden, absondern und bewusst von
ihnen distanzieren, wenn wir mit ihnen nichts mehr zu tun haben
wollen, dann versündigen wir uns an ihnen – und auch an uns selbst.
In diesem Sinn ist die Sünde »der Leute Verderben«. Sünde im mitmenschlichen
Bereich ist dieses einander im Stich lassen.
Es ist heute an der Zeit, auch unser Verhältnis zur Umwelt oder
Mitwelt unter diesem Aspekt zu beleuchten. Man spricht heute von
Umweltsündern. Wir Christen sollten nicht bei einzelnen Verfehlungen
gegen den Organismus der Um- oder Mitwelt stehenbleiben, sondern
die Sünde weiterdenken als Fehlhaltung, aus der Fehlleistungen
kommen. In Sünde mit der Umwelt oder Mitwelt leben heißt: ihrem
organischen Leben so fremd sein, dass wir gar kein Verhältnis mehr zu
ihm haben, dass man das außermenschliche Geschaffene nur als Material
versteht, mit dem wir nach eigenem Gutdünken umgehen können.
Aus diesem tief gestörten Verhältnis zur Kreatur, zum Boden
und zum Wasser, zur Luft, zu den Pflanzen und Tieren in ihrem Eigenleben,
folgen alle die ‚Umweltsünden’, die nun im 21. Jahrhundert
immer deutlicher der Leute Verderben werden. Die Christenheit hat
allen Grund, in sich dieser Sache an ihre eigene Brust zu schlagen.
Gar zu lang hat sie zum Thema Umwelt oder Mitwelt nicht viel mehr
verlautbart als die Stichworte »Entgötterung der Natur« (worunter oft
leider »Entseelung der Kreatur« verstanden wurde) und »Machet euch
die Erde untertan!« Sie hat in ihrer Lehre Wesentliches zum Thema
Mensch und Kreatur unterschlagen und die eigensüchtige Konzentration
des Menschen auf sich, sein Wohl und sein Heil, befördert. Dass
Umkehr auf der ganzen Linie, Umkehr zur außermenschlichen Kreatur,
angesagt ist, das pfeifen einstweilen die Spatzen von den Dächern.
Nur uralt verstockte Politiker, denen ihre Selbstdarstellung wichtiger
ist als das Überleben kommender Generationen, erkennen das nicht.
Wir können nur hoffen, dass solche Umkehr ehrlich, mit Energie und
Intelligenz vollzogen wird und dass sie nicht zu spät kommt. Der Kirche
Jesu Christi, wenn sie bußfertig ist, steht es gut an, in dieser Umkehrbewegung
anderen gesellschaftlichen Kreisen voranzugehen.
Spätestens jetzt können wir nicht anders als unser Verhältnis zu
Gott, dem Schöpfer, dem Versöhner und Erlöser, zu Gott, dem Heiligen
Geist, in den Blick zu nehmen. Wer sich von seinem Ursprung
und Ziel absondert, der kann sich nicht wundern, wenn er ohne Saft
und Kraft lebt. Und der wundere sich nicht, wenn er ziellos und
orientierungslos in Gottes Schöpfung umherirrt. Je ferner wir vom
Schöpfer leben, desto gesonderter von seiner Schöpfung und desto
verständnisloser seiner Kreatur gegenüber, desto orientierungsloser. Je
ferner wir von Jesus Christus leben, in dem Gott ein Mensch wurde,
desto fremder und verständnisloser werden wir gegenüber Menschen,
für die er gelebt hat und um deretwillen er gestorben ist. Je gründlicher
wir uns gegen den Geist Gottes verschließen, desto geistloser
wird es bei uns zugehen und desto weniger Lebensimpulse werden
von uns auf Mensch und Kreatur ausgehen.

Buß- und Bettag bedeutet: die erste der 95 Thesen Martin Luthers
von 1517 neu entdecken: »Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus
sagt ›Tut Buße‹, so will er, dass unser ganzes Leben eine einzige
Buße (oder Umkehr) sei.« Es ist die Frage, ob wir diese Umkehr zu
Gott, zu den Mitmenschen und zur Mitwelt wieder neu als unsere
persönliche Chance erkennen und wahrnehmen.
In die Klage darüber, dass man uns Evangelischen staatlicherseits
den Buß- und Bettag genommen hat, sollten wir nicht verfallen. Niemand
hindert uns daran, am Werktag umzukehren. Und die Frage,
ob einer evangelischen Gemeinde der Buß- und Bettag wirklich wichtig
ist, kann sie am besten dadurch zeigen, wie und wo sie ihn verbringt.
Dass er uns genommen wurde, hat durchaus damit etwas zu
tun, dass wir ihn kirchlicherseits weitgehend nicht wirklich wahrgenommen
haben. Viele Kirchen waren am Buß- und Bettag nur sehr
spärlich besucht. Wie soll da ein Kirchendistanzierter auf die Idee
kommen, dieser Feiertag sei uns wichtig, wo möglich unverzichtbar?
Ich entsinne mich eines Gesprächs mit einem Minister in der Zeit,
in der die Frage diskutiert wurde, welcher evangelische Feiertag als arbeitsfreier
Tag der Finanzierung der Pflegeversicherung geopfert werden
solle. Ich sagte dem Minister: »Wenn schon ein kirchlicher Feiertag
fallen muss, dann bitte der Bußtag zuletzt!« Der Minister wollte
wissen: »Welcher dann?« Meine Antwort: »Wenn überhaupt einer,
dann der Pfingstmontag«. Darauf seine Antwort: »Das geht nicht, da
protestieren die Wirte!«
Das Votum der Wirte ist gewichtiger als das der Kirchenleute. Ich
verstehe das auf dem Hintergrund dessen, dass die Umkehr in den
letzten Jahrzehnten in den evangelischen Kirchen keine sehr spürbare
Rolle gespielt hat. Wir müssen uns an der eigenen Nase packen.
Wie dem auch sei: Der Buß- und Bettag ist nicht gestrichen. Es ist
die Frage, was wir Gemeinden aus ihm machen. Die Einladung zur
Umkehr gilt, ob nun dieser Tag rot oder schwarz im Kalender steht.