Estomihi

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem,
und es wird alles vollendet werden,
was geschrieben ist durch die Propheten
von dem Menschensohn.

Das Evangelium nach Lukas 18, 31

Auch hier wieder dieses »Seht!«, das für uns so viel heißt wie: »Der
Leser merke auf!« Es beginnt der Weg der Passion Jesu. Oder sollten
wir besser sagen: Er gerät in seine heiße Phase? Jesus, der bisher ohne
erkennbare Richtung durch Galiläa ging – sein Weg mutet wie eine
Suchbewegung an – er nimmt nun konsequent Kurs auf Jerusalem.
Aber das »Seht« am Beginn dieser Eröffnung bedeutet auch: Jesus
will, dass seine Jünger wissen, wo er hingeht, was ihm dabei geschehen
wird. Und sie sollen wissen, wo er sie hinführt. Wobei er ihnen
nicht genau sagt, was ihnen auf diesem Weg geschehen wird. Nur
eben so viel, dass sie in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen
werden. Sie werden im Schatten seines Kreuzes leben.
Je wissender und bewusster sie das tun, desto besser. Er will keinen
blinden Gehorsam. Es soll nicht gehen wie in dem populären Lied
»So nimm denn meine Hände und führe mich«, wo der oder die in
Gottes Führung Ergebene sagt »… ich will die Augen schließen und
glauben blind.« Nein, die Jünger sollen nicht die Augen schließen.
Sie sollen wissen, wo ihr Herr und Meister sie hinführt.
Verstehen sie es? Wollen sie es sehen? Dass gleich anschließend von
der Heilung des Blinden (Lk 18,35–43) berichtet wird, bei welcher
der Blinde auf die Frage »Was willst du, dass ich dir tun soll?« antwortet
»Herr, dass ich wieder sehen möge«, ist kein Zufall. Jesus will, dass
seine Jünger sehend werden. Von ihnen heißt es allerdings: »Sie aber
verstanden von alldem nichts, die Rede war ihnen verborgen« (Lk
18,34).
Es fällt schon sehr auf, wie nachdrücklich Jesus seinen Jüngern
sagt, dass er sie ins Leiden führt. Als Petrus nach Jesu erster
Leidensankündigung
ihm diesen Weg ausreden will, fährt ihn Jesus ungewöhnlich
heftig an: »Weiche, Satan, von mir! Du bist mir ein Ärger-
nis; denn du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich
ist« (Mt 16,23). An die Adresse der Jüngerinnen und Jünger aller Zeiten
sagt er daraufhin: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne
sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer
sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert
um meinetwillen, der wird’s finden« (Mt 16,24. 25). Und ganz
direkt: »Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen«
(Joh 15,20). Jesus will Jünger, die solche Schwierigkeiten in ihren
möglichen Lebenslauf einkalkulieren. Die, wenn die Konflikte aufbrechen,
sich nicht wundern, nicht Gott und die Menschen anklagen,
die sich dann vielmehr sagen: Das haben wir gewusst, der Herr hat es
uns gesagt.
Es gibt ein Verdrängen dieser Aussichten, das untüchtig macht für
den Weg der Nachfolge. Weil Jesus die Würde und die Freiheit seiner
Nachfolgenden achtet, weil er mündige Nachfolgerinnen und Nachfolger
haben will, darum schenkt er ihnen in dieser heiklen Frage reinen
Wein ein. Wobei jede Aufforderung, das Leiden zu suchen, in seinen
Worten fehlt. Martyriumssehnsucht, wie sie in der frühen Kirche
gelegentlich zu finden ist, vor allem bei Ignatius von Antiochien, der
bald nach 110 n.Chr. in Rom das Martyrium erlitten und der den
Märtyrertod geradezu gesucht hat, ist den Worten Jesu fremd. Ebenso
eine Heroisierung der Bereitschaft zum Martyrium. Es ist deutlich,
dass in der Alten Kirche Bischöfe, wenn besonders unter jungen Leuten
eine solche Sehnsucht nach dem Martyrium aufkam, sie dieser
Leidenschaft entschieden entgegengewirkt haben, so etwa Cyprian,
der 258 in Karthago das Martyrium erlitten hat. Flucht galt durchaus
als erlaubt. Er selbst, Cyprian, hatte sich einige Jahre vorher dem
Martyrium durch Flucht entzogen.

Dietrich Bonhoeffer, der auch persönlich mit dieser Frage konfrontiert
war, hat darüber einen Aufsatz geschrieben, in welchem er
die Linie der Alten Kirche vertritt: Martyriumssehnsucht wird abgelehnt.
Flucht ist erlaubt. Es mag jedoch Situationen geben, in welchen
Flucht einer Verleugnung gleichkommt. Ob eine solche Situation
gegeben ist, kann der Einzelne nur bei sich selbst entscheiden.
Für Bonhoeffer hatte diese Auffassung sehr direkte Folgen. Weil er
seinen eigenen Ausweg nach Amerika – den ihm Freunde aus der Be-
kennenden Kirche nahegelegt hatten – im Sommer 1939 im Hafen
von New York als »Verleugnung« erkannt hatte, darum kehrte er nach
Deutschland zurück, wohl wissend, dass er damit einen sehr gefährlichen
Weg geht.
Sehnsucht nach dem Martyrium wird bei den wenigsten von uns
das Problem sein. Wir werden bei uns vielmehr eine ganz natürliche
Konfliktscheu feststellen, die uns untüchtig macht zur Nachfolge
Christi. Dass wir all die Jahrzehnte unseres Lebens hindurch als
Christen wegen unseres Versuches Christen zu sein keine nennenswerten
Nachteile, geschweige denn Gefährdungen, in Kauf nehmen
mussten – wie anders ging es unseren Müttern und Vätern während
des Dritten Reiches und wie anders ging es auch zahlreichen Christen,
die Jahrzehnte ihres Lebens in der DDR zugebracht haben – das
gefährdet unser Christsein wohl mehr, als ein kräftiger Gegenwind es
hätte gefährden können. Weit verbreitet ist in Deutschland, vor allem
in den »alten Bundesländern«, eine mimosenhafte Empfindlichkeit
unter Christen, was uns von Mitchristen in Rumänien, in den islamischen
Ländern, im Sudan, in Indonesien nicht nur unterscheidet,
sondern geradezu trennt.
Wir haben Grund zu bedenken, was Thomas von Kempen über
die Leidensbereitschaft der Jünger feststellt:

»Jesus hat viele Jünger, die im himmlischen Reich gern mit ihm
herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen
wollen. Viele, die seinen Trost begehren, aber wenige, die in
der Trübsal mit ihm aushalten wollen.Viele, die mit ihm essen
und trinken wollen, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle
wollen mit ihm Freude haben, aber wenige wollen für ihn leiden.
Viele folgen Jesus nach bis zum Brotbrechen beim Abendmahl,
aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelch. Viele
rühmen die Wunder, die er getan, aber wenige teilen mit ihm
die Schmach des Kreuzes.
Viele lieben Jesus, so lange sie nichts zu leiden haben, loben
und preisen ihn, so lange sie Tröstungen von ihm empfangen.
Aber wenn er sich verbirgt und sie nur eine kurze Weile allein
lässt, da klagen sie gleich und verlieren gar allen Mut. Die aber
Jesus seinetwegen und nicht ihres Trostes wegen lieb haben, die
preisen ihn in den Tagen der heißesten Angst wie in den Stunden
des höchsten Jubels.«

Nun ist in Lukas 18,31 freilich vor allem vom Weg Jesu und dem, wie
es ihm dabei ergehen wird, die Rede. Weshalb wir Grund haben, von
unserem Exkurs über den Weg und die Mentalität der Jünger zurückzulenken
auf Jesu Weg. Freilich, indem Jesus seine Eröffnung beginnt
mit den Worten »wir gehen«, zeigt er deutlich, dass er die Jünger auf
diesen Weg mitnehmen will.
Sein Weg führt »hinauf nach Jerusalem«. In die Stadt, um die sich
alle Hoffnungen seines Volkes sammeln. Von der es heißt:
»Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit
Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und
Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen« (Jes 35,10). Jerusalem, die heilige Stadt, die von den Propheten
auch als der Ort, von dem aus der endzeitliche Messias-König die
Völker regieren wird und an den die Völker wallfahren werden, vorgestellt
wird (Jes 60,1–14; 61). Jerusalem, die heilige Stadt, die im
Neuen Testament zum Sinnbild einer neuen, von Gott gegebenen Gesellschaft
wird, in der Gott unmittelbar gegenwärtig ist. Die von Vorfreude
bestimmten Wallfahrer aus der jüdischen Diaspora gehen nach
Jerusalem zum Fest hinauf. Die Wallfahrtslieder Psalm 120 bis 134
lassen uns spüren, was auf dem Weg dorthin geglaubt, gehofft, gesungen
wurde, zum Beispiel:

Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Haus des Herrn!
Nun stehen unsere Füße
in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des Herrn,
wie es geboten ist dem Volke Israel,
zu preisen den Namen des Herrn.
Wünschet Jerusalem Glück!
Es möge wohl gehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen.
(aus Psalm 122)

Aber für Jesus wird der Weg hinauf nach Jerusalem ein Weg hinab in
schweres Leiden sein. Es wird vollendet werden, was die Propheten geschrieben
haben über den Menschensohn. Der endzeitliche Richter, an
dem alles offenbar wird, wird als der Gottesknecht dem verzweifelten
Hass der Menschheit ausgeliefert sein. Es wird sich an ihm erfüllen, was
von ihm zum Beispiel in Jesaja 53 angekündigt ist. Dass hier der Begriff
Menschensohn gewählt wird, der hier nicht einfach nur »Menschenkind
« bedeutet, sondern »endzeitlicher Richter«, das weist darauf hin,
dass hier, in Jerusalem, der heimlichen Hauptstadt der Welt, daran, wie
es in ihr Jesus gehen wird, die Situation nicht nur des jüdischen Volkes,
sondern der ganzen Menschheit schonungslos herauskommen wird.
Der Prozess gegen Jesus mit all seinen grausamen Einzelheiten ist ein
einziger Prozess, in welchem sich zeigt, wie die Menschheit im Tiefsten
ist. Sie kreuzigt den, in dem die Liebe Gottes Mensch wurde. So kreuzigt
sie täglich die Liebe, die Gottes Wesen ist, aus der allein sie lebt. Sie
verrät, verleugnet, verhöhnt, verurteilt, sie martert und tötet ihren eigenen
Lebensursprung. Sie geht sich selbst ans Leben.
Das ans Licht zu bringen, ist Jesu schwerer Auftrag, den er angenommen
hat. Sein Tod wird kein »Verkehrsunfall der Weltgeschichte«
sein, den man bei einiger Vorsicht auch hätte vermeiden können. Er
ist im höheren Sinn notwendig, so wenig Jesus diesen Weg gezwungen
geht. Er geht ihn freiwillig und bewusst, weil er den Auftrag erkannt
hat, auf diese Weise Menschensohn, Richter zu sein.
Viel entscheidender ist es jedoch, dass auf diesem Weg Gottes
Treue zu seiner Menschheit offenbar wird. Jesus stirbt durch die Menschen,
aber nicht gegen sie, sondern für sie. »Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23,34). Sein Tod wird der große
Ruf: »Lasst euch versöhnen mit Gott.« Mit Gott, der in Christus
die Welt mit ihm selbst versöhnt hat (2. Kor 5,19–21).
Und durch seinen Weg in das Leiden und in den Tod geht er den
Weg, an dessen Ende Gott selbst offenbaren wird, dass er zu seiner
persongewordenen Liebe unter allen Umständen steht, dass er sie
nicht im Grab lässt, dass vielmehr wahr wird, was im Gottesknechtslied
geschrieben ist: »Weil seine Seele gearbeitet hat, wird er das Licht
sehen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein
Knecht, der Gerechte, den Vielen Erkenntnis schaffen; denn er trägt
ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er
wird die Starken zum Raube haben …« (Jes 53,11.12). Das ganze
Oster- und Pfingstgeschehen ist in diesen Sätzen vorausgebildet. Man
wird in der Ausstrahlung des österlichen Christus sagen können: »Das
Alte ist vergangen, Neues ist geworden« (2. Kor 5,17). Und es wird
durch das, was in Jerusalem geschehen wird, deutlich, was in der Vollendungsvision
des himmlischen Jerusalem aufklingt: »Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!« (Offb 21,5).
Es ist also doch ein Weg hinauf nach Jerusalem! Was dort geschieht,
wird in ungeahnter Weise erfüllen, was im Wallfahrtslied
Psalm 122 anklingt.
Estomihi heißt dieser Sonntag. Der Name kommt aus Psalm 31,3:
»Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest.«
Jerusalem die hochgebaute Stadt, die uneinnehmbare Burg, in der Gott seine
angefochtenen Glaubenden birgt. Der Zion als der Fels, auf dem
wir stehen können. Jesus, der hinaufgeht nach Jerusalem, ist für uns
Christen beides geworden, die feste Burg und der Felsen, der uns ei-
einen festen Stand gibt.

Wegworte zum Herunterladen: 18_Estomihi (pdf)